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Elfenblut

Elfenblut

Titel: Elfenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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der vier großen Familien, die ihrerseits über die unterschiedlichen Banden herrschten. Esteban war ganz zweifellos ein Patrono, aber der einzige Patrono, der eigentlich keine Untertanen hatte, über die er herrschen konnte, und – wenn man es ganz genau nahm – nicht einmal eine richtige Familie. Pias erste Erinnerungen an ihn waren deshalb auch die an seine unterschiedlichen Frauen, die ihr damals ebenfalls alt erschienen waren. Aber es waren eben die Erinnerungen einer Vierjährigen, und mittlerweile hatte sie nicht nur verstanden, dass Esteban niemals länger als ein Jahr mit ein und derselben Frau zusammenlebte, sondern näherte sich auch selbst dem Alter, in dem seine jeweiligen Partnerinnen gut ihre Schwestern sein könnten; auch ihre jüngeren. Es gab Zeiten, in denen er mit mehr als einer Frau gleichzeitig zusammenlebte, aber auch noch eine weitere, deutlich dunkle Seite an ihm, von der jedermann wusste und Pia gar nichts wissen wollte. Ihr gegenüber hatte er sich immer wie eine Mischung aus großem Bruder und Vater benommen, selbst als sie allmählich in ein Alter kam, in dem sie durchaus in sein Beuteschema gepasst hätte. Viele der Frauen, die sie an seiner Seite kennengelernt hatte, ähnelten ihr sogar, und wahrscheinlich war auch das kein Zufall.
    Im Augenblick sah er allerdings eher aus wie ein überaus verärgerter Vater, wie er so hinter seinem zerschrammten Schreibtisch saß und abwechselnd sie und das altmodische schwarze Telefon anblickte; fast, als warte er auf einen Anruf, der ihm mitteilte, was er weiter mit ihr tun sollte.
    Vielleicht war es auch so, dachte Pia niedergeschlagen. Sie hatte fast die gesamte Zeit, seit sie hergekommen war, im Zimmer nebenan bei Jesus und dem Arzt verbracht, aber die Wände hier waren dünn. Esteban hatte viel telefoniert, und er hatte sich dabei ein paarmal ziemlich aufgeregt angehört.
    »Ich frage mich wirklich, was ich jetzt mit dir tun soll«, seufzte er schließlich. Pia saß seit gut fünf Minuten auf dem Arme-Sünder-Stuhl vor seinem Schreibtisch, und es waren die ersten Worte, die er seither gesprochen hatte. Sie hätte erleichtert sein sollen, dass die unangenehme Stille vorüber war – aber der Letzte, der diese Worte zu ihr gesagt hatte, war Hernandez gewesen, und die Erinnerung daran gab ihnen einen unangenehmen Beigeschmack. Sie schwieg.
    »Es war ziemlich dumm von dir, hierherzukommen. Ich hoffe, wenigstens das ist dir klar«, fuhr er fort, nachdem er lange genug gewartet hatte, um das Schweigen zwischen ihnen schon wieder unangenehm werden zu lassen.
    »Ich weiß«, antwortete sie kleinlaut. »Ich wusste einfach nicht, wohin. Und ich wollte dir bestimmt keine Schwierigkeiten bereiten, aber …«
    »Schwierigkeiten?«, unterbrach sie Esteban. »Wie kommst du auf diese Idee? Nicht einmal die Peraltas sind so dumm zu glauben, dass ich irgendetwas mit dieser Sache zu tun habe.«
    »Die Peraltas?« Pia erschrak. »Aber was … was haben denn die Peraltas mit …?«
    Esteban unterbrach sie mit einem neuerlichen Kopfschütteln, maß sie mit einem sehr langen, ein wenig traurigen Blick und beugte sich dann nach rechts, um den Leinenbeutel aufzuheben. Der mindestens fünfzig Jahre alte hölzerne Bürostuhl, in dem er saß, ächzte protestierend unter der plötzlichen Verlagerung von mehr als zwei Zentnern Gewicht, und Pia musste an ein anderes zerbrochenes Möbelstück denken.
    »Was die Peraltas damit zu tun haben?« Esteban ließ den Beutel übertrieben wuchtig auf die Schreibtischplatte fallen. Das Telefon hüpfte. »Was glaubst du denn, wem das Zeug hier gehört?«
    Pia starrte den Beutel an. Sie schwieg. Es hätte auch nicht viel gegeben, was sie hätte sagen können. Die Peraltas? Großer Gott!
    »Wie gesagt: Ich hätte dich für klüger gehalten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt wütend oder enttäuscht sein soll. Ich dachte, ich hätte dir mehr beigebracht. Weißt du, Pia, wenn du schon jemanden bestiehlst, dann solltest du dich vorher wenigstens erkundigen, wen. Ich dachte wirklich, ich hätte dir das beigebracht.«
    »Das … das hast du auch«, antwortete sie, noch immer wie betäubt. Die Peraltas? Nein, nicht ausgerechnet sie. Schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Und sie hatte geglaubt, sich Probleme einzuhandeln, weil sie sich mit Hernandez und seinen Schlägern angelegt hatte? »Aber ich wusste nicht, dass …«
    »Eben!« Esteban schlug heftig mit der flachen Hand auf den Tisch, und das Telefon machte einen zweiten und

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