Elfenherz
anzurufen - wieder die Mailbox.
»Hier ist Tom. Bela Lugosi ist tot, aber ich nicht. Bitte eine Nachricht hinterlassen.«
»Hör doch auf, ihn ständig anzurufen«, sagte ihre Mutter. »Wenn er das Handy anmacht, sieht er, wer ihn wie oft angerufen hat.«
»Mir doch egal, was er sieht«, sagte Val und drückte wieder auf die Tasten. »Ist jetzt sowieso das letzte Mal.«
Vals Mutter schüttelte den Kopf und streckte sich auf dem Bett ihrer Tochter aus. Dabei umrandete sie ihre Lippen mit einem braunen Stift. Sie kannte den Umriss ihres Mundes so gut, dass sie keinen Spiegel brauchte.
»Tom«, sagte Valerie ins Telefon, als wieder die Mailbox ansprang, »ich gehe jetzt zum Bahnhof. Du brauchst mich nicht mehr abzuholen, komm einfach direkt aufs Gleis. Wenn wir uns verpassen, nehme ich den Zug, und wir treffen uns am Stadion.«
Ihre Mutter sah sie verärgert an. »Ich finde das nicht so gut, wenn du allein in die City fährst.«
»Wenn wir diesen Zug verpassen, kommen wir zu spät zum Spiel.«
»Dann nimm wenigstens diesen Lippenstift mit.« Vals Mutter kramte in dem Schminktäschchen und reichte ihn ihr.
»Und damit bin ich in Sicherheit, oder was?«, murrte Val und warf den Rucksack über die Schulter. Sie hielt das Handy noch immer in der Hand; das Plastik wurde langsam unangenehm warm.
Vals Mutter lächelte. »Ich habe heute Abend eine Hausbesichtigung. Hast du deinen Schlüssel dabei?«
»Logo.« Val küsste ihre Mutter auf die Wange und atmete Parfüm und Haarspray ein. Ein dunkelroter Lippenabdruck blieb zurück. »Falls Tom doch noch kommt, sag ihm, dass ich schon weg bin. Und dass er ein Arsch ist.«
Ihre Mutter lächelte, aber irgendetwas war komisch. »Warte doch«, sagte sie. »Ich finde, du solltest auf ihn warten.«
»Wieso?«, fragte Val. »Ich habe ihm doch schon gesagt, dass ich losgehe.«
Mit diesen Worten raste sie die Treppe runter, aus der Haustür und durch den kleinen Vorgarten. Es war nicht weit zum Bahnhof und die kalte Luft fühlte sich gut an. Es fühlte sich überhaupt gut an, etwas anderes zu tun, als zu warten.
Auf dem gepflasterten Parkplatz vor dem Bahnhof standen noch die Pfützen vom Vortag und der graue Himmel versprach mehr Regen. Als sie über den Parkplatz ging, blitzten und bimmelten die Signalzeichen zur Warnung. Val schaffte es gerade noch aufs Gleis, bevor der Zug anhielt und heiße, stinkende Schwaden abließ.
Valerie wusste nicht genau, was sie tun sollte. Und wenn Tom sein Handy vergessen hatte und zu Hause auf sie wartete? Wenn sie jetzt fuhr und er den nächsten Zug nahm, verpassten sie einander womöglich. Sie hatte beide Eintrittskarten dabei. Sie konnte sein Ticket an der Kasse hinterlegen, aber vielleicht dachte er nicht daran nachzufragen. Und selbst wenn alles klappte, war es durchaus möglich, dass Tom schlecht gelaunt sein würde. Es konnte sein, dass er nur auf Streit aus wäre, wenn er dann auftauchte, falls er denn auftauchte. Sie wusste nicht genau, was sie machen würden, aber sie hatte gehofft, ein Weilchen mit ihm allein zu sein.
Val kaute an ihrem Daumen, biss einen Niednagel sauber ab und zog dann, sodass nur ein ganz kleines bisschen Haut abging. Das war trotz des kleinen Blutstropfens seltsam
befriedigend, doch als sie ihn ableckte, schmeckte ihre Haut bitter.
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als sich die Zugtüren schlossen. Valerie sah zu, wie der Zug aus dem Bahnhof rollte, und ging dann langsam nach Hause. Sie war gleichermaßen erleichtert und genervt, als sie in der Einfahrt Toms Auto neben dem Miata ihrer Mutter entdeckte. Wo war er bloß gewesen? Sie ging schneller und riss die Haustür auf.
Und erstarrte. Die Fliegengittertür glitt ihr aus der Hand und fiel krachend ins Schloss zurück. Durch das Gitter sah sie ihre Mutter, die sich auf dem weißen Sofa vorbeugte, ihre frisch gebügelte blaue Bluse war bis weit über den BH aufgeknöpft. Tom kniete auf dem Boden und reckte seinen Irokesenschnitt, um sie zu küssen. Auf seinen schwarz lackierten Fingernägeln, mit denen er an den restlichen Knöpfen herumfummelte, war der Nagellack stellenweise abgesprungen. Als die Tür zuknallte, zuckten beide zusammen und drehten sich um. Ihre Mienen waren ausdruckslos, Toms Mund voll Lippenstift. Irgendwie schweifte Vals Blick an ihnen vorbei zu den getrockneten Gänseblümchen, die Tom ihr zur Feier ihres Viermonatstages geschenkt hatte. Der Strauß stand auf der Fernsehkommode, wo sie ihn vor Wochen hingestellt hatte. Ihre Mutter
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