Elfennacht 01. Die siebte Tochter
dein Freund liegt nicht im Koma. Er schläft nur tief und fest.« Sie lächelte. »Er kann jede Minute aufwachen.«
»Wirklich?«
Die Krankenschwester nickte. »Wirklich.« Sie schlug die Decke zurück, damit Anita ins Bett klettern konnte. »Heute ist dein Geburtstag, nicht? Wir haben bei Evans Sachen etwas gefunden, was dich vielleicht interessiert. Warte kurz.«
Wenige Minuten später kam sie mit einem kleinen Päckchen zurück. Sie zog den Vorhang um Anitas Bett zu und schaltete das Lämpchen über dem Bett an.
Das Päckchen war in rotes Papier gewickelt und ein kleines Geschenkkärtchen hing daran.
Für Anita. Ich wünsche dir den glücklichsten aller Geburtstage. Alles Liebe, Evan.
»Das wollte er mir bestimmt gestern geben«, sagte Anita leise. Sie drehte und wendete das Päckchen in den Händen. »Vielleicht sollte ich mit dem Auspacken warten, bis er aufgewacht ist.«
»Ach, ich glaube nicht, dass er etwas dagegen hätte«, sagte die Krankenschwester. »Na komm, mach auf!«
Vorsichtig pulte Anita das Klebeband ab und schlug das scharlachrote Einwickelpapier auseinander. Innen lag ein schwarzes Schächtelchen. Sie nahm den Deckel ab. Darunter kamen erst mal nur weißer Stoff zum Vorschein.
Unter mehreren Schichten Seidenpapier entdeckt sie schließlich einen Anhänger, der an einer filigranen Kette hing. Der Anhänger hatte die Form einer lang gezogenen Träne, war bernsteinfarben und schimmerte im Licht.
Anita biss sich auf die Lippe. Sie nahm die Kette aus der Schachtel, sodass der Anhänger hell schimmernd in der Luft hing.
»Der ist aber schön!«, sagte die Krankenschwester.
»Ja«, flüsterte Anita, »zauberhaft.«
Sie hielt sich den Anhänger vors Gesicht. Tief im Herzen des bernsteinfarbenen Tränentropfens konnte sie dunkles Licht sehen, das wie eine eingeschlossene Flamme zuckte.
»Könnten Sie mir bitte helfen?«
Sie beugte sich vor und die Krankenschwester machte hinten den Verschluss zu. Der Anhänger lag warm auf Anitas Haut. Ein starker Drang überkam sie, bei Evan zu sei n – und sei es nur für ein paar Sekunden.
»Ich muss mich unbedingt bei ihm bedanken, auch wenn er mich nicht hören kann«, bat sie. »Kann ich zu ihm, mich zu ihm setzen? Nur für ein oder zwei Minuten.«
»Morgen Früh gern«, sagte die Krankenschwester. »Vielleicht ist er dann sogar wieder auf den Beinen.« Sie lächelte auf Anita hinunter. »Aber jetzt versuch zu schlafen.«
Anita ließ sich in die Kissen sinken und umschloss den Anhänger mit ihrer Hand. Die Krankenschwester deckte sie zu und schlüpfte durch den Vorhang hinaus.
Anita fielen die Augen zu, ihre Lider waren bleischwer.
Nun gute Nacht! So süß ist Trennungswehe, ich rief’ wohl gute Nacht, bis ich den Morgen sähe.
Als Anita aufwachte, war es noch immer still und dunkel. Sie hielt den Bernsteinanhänger immer noch fest umklammert und lächelte, als es ihr auffiel. Evans tolles Geschenk. Sie tastete nach der Uhr auf dem Nachtkästchen. Das Leuchtziffernblatt zeigte, dass es erst halb sechs Uhr früh war, aber sie war merkwürdigerweise munter.
Sie richtete sich auf und schaltete die Lampe über dem Bett an. Ein heller Lichtschein flutete auf sie herab.
Sie wusste nicht recht, was sie von den Abenteuern der vergangenen Nacht halten sollte. Das war alles ganz schön verrückt gewesen: Flügel und ihre Flug über die nächtliche Stadt. Allerdings fühlte sie sich nicht so, als würde sie verrückt werden. So etwas merkte man doch, oder?
Sie nahm ihr neues Buch vom Nachttisch, legte es vor sich hin und streichelte das weiche Leder. Sobald sie sich einen guten Füller zugelegt hätte, würde sie alles aufschreiben, woran sie sich von dem Flug erinnern konnte. Ob das wirklich geschehen war oder nicht, spielte dabei eigentlich keine Roll e – es war einfach total irre gewesen.
Sie schlug die erste Seite auf. Die elfenbeinfarbenen Blätter waren dick und sahen aus als wären sie aus handgeschöpftem Papier.
Sie blätterte die erste Seite um.
Das letzte Mal, als sie nachgesehen hatte, waren das Buch leer gewesen, da war sie sich absolut sicher. Doch waren die Seiten gefüllt: schwarz auf weiß hoben sich die Buchstaben, die in einer altertümlichen Schnörkelschrift gedruckt waren, vom Papier ab.
Elfen wandeln Elfenpfade,
in Bernstein gefangen, doch leicht wie Licht.
Die Sterblichen in ihrer Welt,
geschlagen von Blindheit,
sehen sie nicht.
Nur eine kann in beide Welten,
jüngste Tochter derer sieben,
zusammen mit dem einzig
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