Elfennacht 01. Die siebte Tochter
Wahren,
Hand in Hand in tiefem Lieben.
Anita hatte keine Ahnung, was die Worte bedeuten sollten, aber sie erinnerten sie an Shakespeare.
Sie fühlte sich seltsam entrückt und fern der Realität. »Bestimmt träume ich schon wieder«, murmelte sie. »Genau wie heute Nacht.«
Lächelnd blätterte sie um.
Da stand noch mehr. Viel mehr.
An diesem Tage ward Prinzessin Tania geboren, als siebente Tochter unseres ruhmreichen Königs Oberon und unserer viel gepriesenen Königin Titania. Im ganzen Königreich läuteten überall die Glocken angesichts der frohen Kunde.
Das klang fast wie ein Märchen, aber die Sprache war so altertümlich und blumig, dass ein Kind sie wohl nur schwer verstand. Vielleicht ein Märchen für Erwachsene?
Stirnrunzelnd las Anita weiter. Es folgten ausführliche Beschreibungen von den Feierlichkeiten und den Besuchen wichtiger Persönlichkeiten sowie endlose Einzelheiten über die ersten Tage im Leben der Neugeborenen. Allmählich verschwamm die Schrift vor Anitas Augen. Sie gähnte und ihr fiel das Buch aus den Händen. Doch mit einem Schlag war sie wieder hellwach, als die Seiten sich plötzlich wie von selbst umblätterten. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie zu. Erst ein paar Dutzend Seiten später hörte das Buch wieder auf. Es war der Anfang eines neuen Kapitels.
Am Tag vor ihrem sechzehnten Geburtstag traf Prinzessin Tania alle Vorbereitungen für ihre anstehende Vermählung mit dem jungen Lord Gabriel Drake von Castle Weir. Sie war froh und glücklich, denn er stammte aus einer vornehmen Familie, sah gut aus und hatte vollendete Manieren.
Ah, das klang schon spannender. Anita machte es sich wieder gemütlich und las weiter.
Am Abend vor ihrem Hochzeitstag streute man Rosenblütenblätter und versprühte den Duft von Sandelholz und Nachtkerze auf Prinzessin Tanias Bett, auf dass ihre Träume gesegnet seien. Dann ließ man sie allein, damit sie ein letztes Mal in ihrem Schlafgemach aus Kindertagen schlafen konnte.
Lächelnd las Anita, wie Tania mit einer roten Rose in der Hand, die ihr Verlobter ihr geschenkt hatte, auf ihrem großen Himmelbett saß und glücklich aus dem Flügelfenster hinaus auf den Vollmond schaute.
In der stillen Stunde vor Mitternacht klopfte es leise an Prinzessin Tanias Tür. Es war ihre Schwester Prinzessin Rathina, die gekommen war, um ihr in den letzten Augenblicken Gesellschaft zu leisten. Sie redeten miteinander, waren gar lustig und vergnügt, aber ihr Glück ward zerstört, als Prinzessin Tania mit einem Mal spurlos aus ihrem Gemach verschwand.
Anita blinzelte überrascht. Sie las die Passage ein zweites Mal, um sicherzugehen, dass sie nichts missverstanden hatte.
Nei n – Prinzessin Tania war tatsächlich verschwunden.
Prinzessin Rathina war zutiefst bestürzt ob des Verschwindens ihrer geliebten Schwester und sie lief von Raum zu Raum und weckte alle mit ihrem Rufen auf. Bald war der ganze Palast auf den Beinen und die schreckliche Kunde von Prinzessin Tanias Verschwinden ward von Gemach zu Gemach, von Zinne zu Zinne und Turm zu Turm weitergetragen, bis sie selbst in die abgelegensten Ecken des Großen Palastes gedrungen war.
Anita blätterte weiter.
Als der Tag anbrac h – jener Tag, an dem eigentlich seine Vermählung hätte stattfinden solle n – kniete der junge Lord Drake vor König Oberon nieder und schwor, dass er nicht rasten noch ruhen würde, ehe er seine verlorene Liebe gefunden hätte, auch wenn seine Suche sieben mal siebzig Jahre dauern sollte.
Und das war’s. Damit endete die Geschichte unvermittelt auf der Hälfte der Seite. Anita schlug die nächste Seite auf und die übernächste und die überübernächste, aber mehr kam nicht. Das restliche Buch war leer. Sie las den letzten Absatz noch einmal und fragte sich, ob sie irgendetwas nicht mitbekommen hatte.
Plötzlich sprach eine leise, sanfte Männerstimme die Worte laut mit, die sie las. Überrascht blickte Anita auf. Die Stimme schien ganz in ihrer Nähe zu sein. Doch da war niemand.
»Wer bist du?«, flüsterte sie.
Keine Antwort.
»Was passiert hier?«
Stille.
»Ich habe keine Angst«, sprach Anita in die Luft. »Ich möchte nur wissen, was hier vorgeht.«
Da schien eine andere Stimme ihre Worte fast wie ein Echo zu wiederholen. »Was geht hier vor?«
Doch das war nicht mehr die Männerstimme, sondern eine forsche, gedämpfte Frauenstimme.
»Keine Ahnung, Schwester. Gerade eben war er noch hier.« Diese zweite Stimme erkannte Anita: Es war die
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