Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
»Was geschah mit Mutter? Du hast mich lange genug gegängelt. Es ist mein Recht, zu wissen, was mit ihr passiert ist. Verdammt noch mal, ich möchte zumindest ihr Grab besuchen!«
Der Taxilenker blickte sich irritiert um und machte mit der Hand eine beschwichtigende Bewegung.
»Das wird nicht möglich sein«, sagte Fabio leise.
Er blickte aus dem Fenster, auf die Vororte Palermos. Eine Beschilderung wies darauf hin, dass sie soeben auf die
autostrada 19
fuhren.
»Warum nicht? Wovor hast du Angst, Vater?«
»Ich musste Julia schwören, niemals ein Sterbenswort über ihren Abschied zu verlieren. Auch dir gegenüber nicht. Es war ein Elfenschwur, den ich nicht brechen konnte.«
»Abschied? Ein seltsames Wort für den Tod ...«
Fabio redete so leise weiter, dass sie ihn kaum noch verstehen konnte. Er war dem Fenster zugewandt, wich ihren Blicken aus. »Bitte verzeih mir, meine Kleine. Ich durfte nicht, konnte nicht ... Ich nenne es Abschied, weil ich dich ... angelogen habe. Deine Mutter lebt, und zwar hier in Sizilien.«
Nadja schrie so laut auf, dass der Fahrer vor Schreck die Spur wechselte und beinahe eine Kollision verursacht hätte. Er begann eine Schimpfkanonade, die sie zwar nicht verstehen konnte, die aber sicherlich nicht für die Ohren junger Damen geeignet war. Sie achtete nicht auf den Süditaliener, sondern packte ihren Vater am Hemdkragen und zog ihn nahe zu sich, sodass sie aus geringster Entfernung in seine goldbraun schimmernden Augen starrte. »Sag das noch mal, du ... du Bastard! Sag, dass du mir das Recht auf meine Mutter vorenthalten hast, mein ganzes Leben lang!«
»Es war Julias Wunsch. Sie hat ... auf dich verzichtet, um unser aller Sicherheit zu gewährleisten. Als wir uns verabschiedeten, schwor ich ihr, niemals mehr nach ihr zu suchen. Wir hatten eine schöne gemeinsame Zeit, die uns für die Jahrhunderte der Suche mehr als entschädigte. Doch dann ...«
Nadja ließ los. Ihr Vater ließ sich schwer nach hinten fallen. »Ich habe selbst erst vor Kurzem erfahren, dass sie sich hier auf Sizilien, in der Nähe von Taormina aufhält. Ich weiß nur, dass sie ein Waisenhaus für Kinder mit angeschlossener Klinik leitet. All die Jahre hatte ich kein Lebenszeichen von ihr. Kannst du dir etwa vorstellen, wie
ich
mich fühle?«
Nadja konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie verstand die Zusammenhänge nicht. Jeglicher Versuch, den Wirrwarr in ihrem Kopf zu ordnen, scheiterte.
»Sie weiß nicht, dass du kommst«, fuhr Fabio fort, »aber ich bin der Meinung, dass du ein Recht darauf hast, sie endlich kennenzulernen. Dasselbe gilt umgekehrt. Julia soll wissen, was aus dir geworden ist.«
»Das sind also die Familienangelegenheiten, wegen denen du mich unbedingt nach Sizilien schleppen wolltest.«
»Unter anderem.«
Ihr Vater legte einen Arm auf ihre Schulter und zog sie an sich. Nur zu gerne gab sie nach. All ihr Zorn verschwand, machte Aufregung und Nervosität Platz. Ihre Wangen fühlten sich seltsam heiß an. Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln, und ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie würde ihre Mutter sehen!
»Unsere Hauptaufgabe wird es sein, den Getreuen daran zu hindern, einen weiteren Stab am Ätna zu installieren. Ich habe mittlerweile von Pirx und Grog interessante Neuigkeiten erfahren ...«
»Wie und wo?«
»Elfenpost«, sagte Fabio geheimnisvoll. »Es steht so gut wie fest, dass der Getreue auf dem Weg hierher ist. Wenn er die mystische Kraft des Ätnas bändigen und sie mit einer Ley-Linie verknüpfen kann, steht der Befreiung Bandorchus so gut wie nichts mehr im Wege.«
»Der Getreue«, wiederholte sie.
»So ist es. Du und ich werden sein Werk verhindern, nicht wahr?«
»Ja, das werden wir.«
Sie drückte sich noch enger an ihren Vater und verschwendete keinen einzigen Augenblick an diesen schrecklichen Gegner. Alles, woran Nadja momentan denken konnte, war die tot geglaubte Mutter.
Sie würde sie sehen.
13 Späte Rache
Nahe München, wenige Stunden zuvor:
Eine alte Frau öffnete die Tür. Sie starrte Fabio an und winkte ihn dann an sich vorbei ins Haus.
»Ist lange her, nicht wahr?«, krächzte sie.
»Nicht so lange, dass ich dich vergessen hätte«, erwiderte er.
Sie schlurfte einen dunklen Gang entlang, führte ihn in das Wohnzimmer und wies ihn an, auf einem abgewohnten, schmutzig gewordenen Möbel Platz zu nehmen. Dicke Vorhänge hingen vor den Fenstern. Es roch muffig und abgestanden, Staubkörnchen tanzten im Licht einer nackten Glühbirne durch
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