Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
die Luft.
»Warum wohnst du ausgerechnet hier?«, fragte Fabio.
»Moorland«, sagte sie und hustete. »Auch wenn nicht mehr allzu viel davon übrig ist – es tut mir gut und lindert den Schmerz in den alten Knochen.«
»Du fühlst Schmerzen?«
»Ja.« Sie tastete zitternd nach zwei Tassen, die auf einem alten Holzregal standen. »Tee?«
»Bitte.«
Die Alte verließ den Raum. Fabio hörte Wasser laufen, dann das Aufflammen eines Gaskochers und nach zwei oder drei Minuten das Pfeifen einer Teekanne. Sie kam zurück und goss ihm wortlos ein.
»Keine Milch, keinen Zucker?«
»Es ist kein Tag für Milch und Zucker.«
»Hm, hm ... Wie hast du mich gefunden, Elf? Und warum ausgerechnet jetzt? Sicherlich hättest du meine Spur bereits viel früher aufnehmen können. Ehrlich gesagt habe ich schon im vierzehnten Jahrhundert mit dir gerechnet.«
»Ich habe den richtigen Zeitpunkt abgewartet. Und ich wollte, dass du eine Zeit lang an mich denkst. Dass du weißt, dass ich jederzeit kommen könnte.«
Er nippte am Tee. Er schmeckte abscheulich. »Die guten Zeiten sind vorbei, nicht wahr?«, fragte er, nicht ohne Häme.
Die Alte hustete. »Die Zeiten sind in Ordnung; aber meine Knochen sind alt und morsch geworden, und irgendwann habe ich die Lust verloren.«
»Lust ...«, wiederholte Fabio nachdenklich.
»Genau. Lust. Ist es denn nicht das, worum es sich im Leben wirklich dreht?«
»Nein, ich muss dich enttäuschen. Es gibt Gefühle, die weitaus größere Bedeutung besitzen.«
»Bist noch immer der alte Romantiker, hä?«
Sie lachte krächzend und gab den Blick auf ein paar faulige Zahnstümpfe in ihrem Mund frei.
»Du weißt, dass dies kein ... Freundschaftsbesuch ist?«
»Selbstverständlich, Fabio. Um ehrlich zu sein, habe ich deinen Besuch herbeigesehnt.« Ihr Gesicht, das fast menschenähnlich wirkte, verzerrte sich zu einer Grimasse des Wahnsinns. »Du weißt gar nicht, was es bedeutet, einsam zu sein. Letzte eines uralten Geschlechts zu sein und niemanden mehr um sich zu haben, mit dem man seine Erinnerungen teilen kann. Nur noch ich weiß von den Archivosischen Brennbeuteln, von Dikkstra, dem bunten Gott der Einfalt, von den wandernden Habichnichtsen im Rhymischen Gebirgsloch und den vielen anderen Figuren aus meiner Jugend. Sie werden bald endgültig vergessen sein. So, wie die Menschen und die Elfen
mich
vergessen werden. Die Furcht wird aus ihren Herzen schwinden, und sie werden sich neue Götter suchen müssen.«
»Ich
werde dich niemals vergessen.«
Die Alte lachte. Sie stellte sich auf ihre wackligen Beine, trank einen letzten Schluck des Tees und nickte Fabio dann zu. »Bringen wir’s hinter uns?«
»Es wird mir ein Vergnügen sein.«
Sie stülpte die Lippen übereinander und pfiff leise. Ein Hase kam herbeigehoppelt. Sein Fell war struppig, die roten Augen blutunterlaufen und die Gelenke arthritisch.
»Cucurr ist dir also treu geblieben, über all die Jahrhunderte hinweg?«
»Ich sagte es dir bei unserer letzten Begegnung: Bluthasen sind uns Annuna ergeben. Bis in den Tod.«
»Bis in den Tod, Bellona ...« Fabio stand auf.
ENDE
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