Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
fand ihn wohlauf in Schloss Tiollo. Seine Schläfen waren ergraut, sein Gesicht wirkte mager, die Haut käsig und faltig, und ein brokatbesticktes Tuch war über seine Augen gewickelt. Die Regierungsarbeit fraß den Gefährten aus meiner Jugend auf, das war nicht wegzuleugnen. Und dennoch sprang er in jugendlichem Überschwang von seinem Erbthron hoch, stürzte auf mich zu und umarmte mich mit einer Aufrichtigkeit, wie ich sie nur selten bei Mensch oder bei Elf gefunden hatte.
Wir tanzten durch den großen Saal, hieben uns das eine ums andere Mal auf den Rücken, lachten und weinten, weinten und lachten. Viele Hofadelige rümpften die Nase und verließen pikiert den Saal – es kümmerte uns nicht.
»Ich spüre deine Präsenz, Freund!«, rief er mir lachend zu. »Sie strahlt heller als alles, was ich in letzter Zeit zu Gesicht bekam.«
»Du
spürst?«
, fragte ich und schob ihn prüfend von mir. »Was soll das heißen?«
»Mein Augenlicht mag zwar für alle Zeiten verloren sein, aber ich habe andere Sinne entwickelt.« Wieder schlug er mir auf die Schulter, dann zog er mich mit sich. Laetico ging so sicher wie ich, umrundete einen kleinen Beistelltisch und visierte punktgenau einen alten Elfen an, der mit einer Hand beständig seinen bodenlangen Bart entlangfuhr.
»Du erinnerst dich an den alten Zausel, der dir und mir das Leben rettete und später half, das Reich Earrach neu aufzubauen?«
»Vonlant«, sagte ich und deutete eine Verbeugung an. »Es freut mich, dich wiederzusehen. Als Stein warst du allerdings nicht so hässlich, wie du es jetzt bist.«
»Nimm dich in Acht, Jüngling«, brummelte der Heilelf, »sonst zaubere ich dir fingerlange Warzen dorthin, wo es am unschicklichsten ist.«
Der alte Griesgram sah mich mit strengem Blick an. Doch er verstand es nur mangelhaft, seine Rührung zu verbergen. Der gemeinsame Kampf gegen Eirinya hatte ein unsichtbares Band zwischen uns gesponnen, das trotz der langen Trennung nicht zerrissen war. Zudem musste ich mich ermahnen, den Zeitenverlauf auf der Erde nur ja nicht mit jenem auf der Elfenwelt zu vergleichen. Was waren schon 1500 Jahre für einen Bewohner dieser Sphäre?
Laetico zog mich zu einer drallen, blondhaarigen Frau, die den Platz neben dem Thron des Königs eingenommen hatte. »Erinnerst du dich?«, fragte er.
»Levelle?
Du?«
»Das blonde Gift«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »So ist es.«
»Sie ist mir ein treues Weib geworden«, sagte Laetico. »In ihrer Jugend hat sie sich die Hörner anständig abgestoßen; woran du nicht ganz unschuldig warst, wenn ich mich recht erinnere.«
Ich empfand gemischte Gefühle beim Anblick dieser Frau, deren Aussage dafür gesorgt hatte, dass ich verurteilt worden war. Doch ich erinnerte mich an die Gebräuchlichkeiten in der Elfenwelt: Alles war ein Spiel, nichts wurde richtig ernst genommen. Dein schlimmster Feind konnte schon am nächsten Morgen dein bester Freund sein.
Lediglich der Kampf zwischen Fanmör und Gwynbaen hatte eine andere, eine größere Dimension erreicht.
Laetico ließ Musiker aufmarschieren und die Bratöfen vorheizen. Ein Gelage erschütterte die Korallenburg Tiollo in ihren Grundfesten, und ich kostete das elfische Leben mit all meinen Sinnen aus. Denn ich wusste, es würde für sehr lange Zeit meine letzte Gelegenheit zum Feiern sein.
Am nächsten Morgen, als die Welpenthinger den Elfenwelt-Tag herbeikrähten, suchte ich Laetico in seinen privaten Räumlichkeiten auf. Ich weckte ihn, ertrug seine Beschimpfungen und erklärte ihm, warum ich
wirklich
gekommen war. Er hieß mich einen Idioten, verfluchte meine Idee und bat mich inständig, so rasch wie möglich auf die Erde zurückzukehren.
Das war mir nicht möglich, und ich sagte es ihm. Würde er mir einen letzten Freundschaftsdienst erweisen?
»Du weißt, was du da von mir verlangst?«, fragte er nach geraumer Zeit.
»Das tue ich. Und ich hoffe, dass du mich nicht enttäuschst.«
»Nach allem, was wir gemeinsam erlebt haben?« Laetico lachte freudlos. »Natürlich nicht.«
»Dann bitte ich dich: Gib mir, was ich haben will. Zeig es mir.«
Der König erhob sich, wankte ein wenig und trank Wein aus einem Schlauch. »Ich warne dich: Ich empfinde meine ... Begabung nicht als Geschenk. Vonlant wollte mir etwas Gutes tun, als er mir das eine Auge ersetzte; doch er hat mir eine Last aufgebürdet, die mich krank macht, wenn ich sie täglich einsetzen würde. Ich habe es mittlerweile verstanden, mich mit meinem Schicksal zu
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