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Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Titel: Elia Contini 03 - Das Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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und Gebräuche ihr gänzlich fremd waren.
    Die Vorstellung, ins Dorf hinunterzugehen und mit jemandem zu reden, erfüllte sie mit blankem Entsetzen. Lieber blieb sie im Wald, geschützt vom Dickicht der Bäume, und wartete, dass ihre Lage sich klärte.
    Sie verstaute ihre Habseligkeiten und steckte die Abfälle – den leeren Joghurtbecher, die Wurstverpackung, das Schokopapier – in die Plastiktüte: lieber keine Spuren hinterlassen. Sie stand auf, schüttelte ihre eingeschlafenen Beine aus, dann machte sie sich wieder auf den Weg. Sie musste einen Unterschlupf für die Nacht finden.

5
Wo kommst du denn her?
    Luciano Savis früheste Erinnerung war ein Brennnesselfeld.
    Sie rannten mitten hindurch, er und sein Bruder, selig, weil sie lange Hosen anhatten und die Brennnesseln ihnen nichts anhaben konnten. Sie rannten mit hoch erhobenen Armen, um jeden Kontakt zwischen Brennnessel und Haut zu vermeiden. Eine unauslöschliche Erinnerung. Halb so groß wie er selbst waren die Brennnesseln. Riesenpflanzen. Und er und sein Bruder fühlten sich ganz sicher.
    Es gibt nichts Besseres, als sich sicher zu fühlen.
    Mit bangem Herzen hatte Savi den Besuch der Polizei erwartet und sich gefragt, weshalb niemand kam, um ihn festzunehmen. Dann hatte er die Nachrichten im Radio gehört: Es wurden zwar keine Details genannt, aber jetzt wusste er immerhin, weshalb ihn niemand behelligte: Das Mädchen war spurlos verschwunden.
    Jemand behauptete, sie sei entführt worden, andere spekulierten, sie sei von einem Freund abgeholt worden. Nur Savi kannte die Wahrheit: Sie war in den Wald geflohen, um ihrem Mörder zu entgehen.
    Den ganzen Vormittag hatte er das Haus nicht verlassen. Es rief auch niemand an oder kam vorbei, man wusste ja, dass er spät aufzustehen pflegte. Er hätte sich gern auch den Nachmittag eingeigelt, aber das konnte er sich nicht erlauben; um keine Aufmerksamkeit zu erregen, musste er sich möglichst normal verhalten. Und er hatte eine Verabredung in Lugano, ein Arbeitsessen mit Ferdi, dem Typen, der den Kontakt mit den Leuten im Osten hielt.
    Es würde kein angenehmes Treffen, so viel stand fest. Savi hatte schlechte Nachrichten: In der nächsten Zeit müssten sie sich, wie man so schön sagt, bedeckt halten. Keine Mädchen mit falschen Papieren mehr, keine Tricksereien mit Geburtsdaten, keine fingierten ärztlichen Gutachten. Früher oder später würde diese Göre wieder auftauchen. Und reden. Und Savi in arge Schwierigkeiten bringen, aber bis dahin musste er beweisen können, dass es im Tukan streng legal zuging. Im Grunde, sagte er sich wieder, stand sein Wort gegen das des Mädchens. Er hatte keine Spuren im Haus hinterlassen, hatte nichts angefasst. Und selbst wenn, dann konnte er immer noch sagen, er habe mit der Frau des Doktors ein Gespräch geführt, und selbstverständlich sei sie gesund und munter gewesen, als er sie wieder verlassen habe. Sein Wort gegen das des Mädchens.
    Er duschte ausgiebig und suchte einen seiner besten Anzüge heraus: azurblaues Leinen, kombiniert mit einem weißen Hemd; Socken und Krawatte in Dunkelblau. Er rasierte die freien Flächen zwischen seinen Bärten unter besonderer Beachtung der Grenzen zwischen Koteletten und Kinnbärtchen. Er hatte kurz überlegt, den gesamten Gesichtsschmuck abzunehmen, um sich weniger kenntlich zu machen, aber die Idee wieder verworfen: Er hätte sich nur verdächtig gemacht.
    Verabredet waren sie auf der Piazza della Riforma in Lugano. Savi verließ die Autobahn in Lugano Nord. Er parkte am Bahnhof und fuhr mit der Seilbahn in die Altstadt hinunter. Er genoss es, trotz der Umstände, durch die Gassen zu schlendern und die Schaufenster und Gäste in den Restaurants zu betrachten. Er war sich seiner Eleganz bewusst, er strahlte Vertrauenswürdigkeit aus. Er konnte doch nicht wegen eines dummen Fehlers sein ganzes Leben zum Teufel gehen lassen!
    Gewiss, es war nicht alles rechtens, was im Tukan vor sich ging. Aber man muss eben auch mal fünf gerade sein lassen, wenn man heutzutage trotz Krise vorwärtskommen will. Alles in allem war seine Bilanz positiv: Letztlich tat er diesen Mädchen eher Gutes.
    »Die Mädels wird es nicht freuen«, kommentierte Ferdi folgerichtig, als ihm Savi seine Absichten mitteilte.
    »Leider«, erwiderte Savi. »Aber es ist besser so.«
    Ferdi war ein furchteinflößender Bursche. Er hatte Verbindungen mit einigen gut strukturierten und diversifizierten Organisationen, die »Künstlerinnen« in den Westen lieferten. Nach

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