Elia Contini 03 - Das Verschwinden
hielt und abwartete, bis die Luft rein wäre, um sich dann ins Haus der Rocchis zu schleichen, zog er erst, immer in Sichtweite der Straße, ein paar konzentrische Kreise. Dann schlug er den Fußweg ein, der zum oberen Teil von Corvesco führte. Aber es waren schon zu viele Menschen unterwegs gewesen; es war unwahrscheinlich, dass sich hier noch irgendein Hinweis fand. Er kehrte also wieder in die Nähe des Hauses zurück und ging talwärts einen kleinen Abhang hinunter.
Bei der Polizei wurde man für Suchaktionen dieser Art ausgebildet, das wusste Contini. Aus irgendeinem Grund war er jedoch überzeugt, dass der Wald in Natalias Fall für die Polizei reine Formsache war, eine widerwillig erledigte Pflicht: Das Mädchen, hieß es, habe kein Motiv gehabt, die relative Sicherheit des bewohnten Gebiets gegen den nächtlichen Wald einzutauschen. Contini glaubte nicht daran; er hielt die Hypothese von der Flucht im Auto für wahrscheinlicher.
Am Fuß des Abhangs floss der Tresalti dahin.
In derselben Sekunde, in der Contini beschloss, dem Flusslauf noch eine Weile zu folgen, ehe er zum Auto und dann nach Bellinzona zurückkehrte, um die Fotos abzuliefern, fiel sein Blick auf etwas Weißes am Ufer; im ersten Moment hielt er es für ein Taschentuch. Er trat näher und hob es auf; es war ein Stück Papier, ein abgerissener, einseitig beschriebener, vom Wasser halb aufgelöster Computerausdruck.
chtig Te numme n
----
Kate (na l) – 079 80 14
(Anr Wg tigung)
L. »Tukan«: 091 55
Tel. Luciano i: 4
änderamt: 8 21
Contini drehte den Zettel in den Händen hin und her.
Die Hälfte war sowieso nicht mehr zu lesen, und der Rest schien uninteressant. Das Tukan war, wenn er sich recht erinnerte, ein Nachtclub: Die Zeitung hatte einmal einen Bericht über die juristische Auseinandersetzung im Zusammenhang mit Vorwürfen übler Nachrede gebracht. Der Zettel schien der Überrest einer Aktennotiz zu sein, und Contini fragte sich, wie er ans Ufer des Tresalti geraten war. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er weder mit dem Verbrechen noch mit Natalia zu tun. Trotzdem faltete er ihn zusammen und steckte ihn in seine Brieftasche.
Dann sah er sich um. Er stand mitten im Wald, in Bürokleidung, die Kamera um den Hals. Ohne andere Rechtfertigung als seine Manie, Detektiv zu spielen. Dabei hatte er den Beruf doch an den Nagel gehängt – weil er es satthatte, Material für Scheidungen zu sammeln, verwöhnten Teenagern nachzuspionieren, in anderer Leute schmutziger Wäsche zu wühlen. Wenn in diesem Wald eine Leiche lag, dann wollte ganz bestimmt nicht er derjenige sein, der sie fand.
Er stieg den Abhang wieder hinauf und verließ den Wald. Die Wiese war jetzt menschenleer. Ohne einen Blick auf das Haus der Rocchis ging Contini auf sein Auto zu und fuhr nach Bellinzona zurück.
Auch diesmal bekam ihm Jacques Brel nicht besonders.
4
Hunger
Natalia hatte den Bach hinter sich gelassen und sich den ersten Häusern des Dorfs genähert. Wo der Wald zu Ende war, lag eine abschüssige Wiese, an der eine Straße vorbeiführte, und hinter der Straße begann bewohntes Gebiet. Natalia kam um die Mittagszeit. Es roch nach Holzrauch und Grillfleisch.
Sie hatte Hunger. Sie folgte dem Geruch bis zu einem Haus, das gleich unterhalb der Straße stand. Rund um das Haus war ein Garten, und in diesem Garten stand ein kleiner gemauerter Grill. Daneben, unter zwei Sonnenschirmen, war ein Holztisch gedeckt. Ein Mann war am Grill beschäftigt; zwei weitere Männer und eine Frau standen dabei, ein Glas in der Hand, und sahen ihm zu. Aus dem Haus kam eine Frau, die eine Schüssel brachte.
Natalia konnte unmöglich hingehen und um Essen bitten. Diese Leute waren ihr sicher nicht wohlgesinnt, oder aber sie verrieten sie an jemanden, der ihr übelwollte. Sie überlegte, ums Haus zu schleichen, während die Bewohner im Garten saßen, und vielleicht einen zweiten Eingang zu finden.
Im hinteren Garten lag eine schwarze Katze im Gras und sonnte sich. Natalia wollte etwas zu ihr sagen, aber es kam ihr kein einziges Wort in den Sinn. Sie ging an ihr vorbei, um durchs Fenster zu spähen, und sah: ein Bett und eine weiße Wand und dem Bett gegenüber einen mächtigen alten Schrank. Die Fensterflügel standen offen, doch die halb geschlossenen Läden waren blockiert. Natalia schaffte es, eine Hand durch die Lücke zu schieben und einen Laden auszuhängen. Sie öffnete ihn und kletterte aufs Fensterbrett.
Dann stand sie im Schlafzimmer. Es roch nach frisch gewaschener
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