Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Bettwäsche, nach fabrikneuem Stoff. Lautlos öffnete Natalia die Tür und fand sich in einem Flur. Sie hörte die Stimmen aus dem Garten und huschte den Flur entlang. Der mündete in ein Wohnzimmer, dessen Glastür zur Terrasse offen stand, und der Fleischgeruch wehte in Schwaden herbei; vor Hunger krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie hörte eine Frau lachen und eine tiefe Männerstimme antworten, aber was sie sagte, verstand Natalia nicht.
Das Wohnzimmer war mit einer blauen Sitzgruppe und einer Bücherwand mit Fernseher möbliert; linker Hand stand ein Esstisch mit Stühlen. Und dort, gleich hinter dem Tisch, war die Küche.
Sie war Natalias Ziel. Sie sah sich um: Auf der Arbeitsplatte lagen auf einem Brett drei noch rohe Spareribs und zwei Cervelatwürste in Plastik. Rasch griff sie nach den Würsten und ließ sie in ihrer Umhängetasche verschwinden. Dann öffnete sie den Kühlschrank und bediente sich: Sie nahm sich einen Karton Milch, zwei Becher Joghurt, ein Stück Käse und einen vakuumverpackten Schinken in Scheiben heraus. Aufs Geratewohl öffnete sie die Küchenschränke, bis sie eine Plastiktüte zum Transport ihrer Vorräte fand. In einer Kredenz entdeckte sie einen Laib Brot, eine Packung Kekse, zwei Tafeln Schokolade. Der Vollständigkeit halber nahm sie noch ein Messer und einen Löffel für den Joghurt mit.
Wieder hörte sie die Frau lachen, diesmal allerdings gefährlich nahe. Blitzschnell huschte sie aus der Küche durchs Wohnzimmer in den Flur, in der Hand ihre Tüte mit Essen, und verschwand im Schlafzimmer. Dort stand sie atemlos und mit klopfendem Herzen hinter der Tür und spähte sekundenlang durch den Spalt. Nichts geschah. Die Frau hatte von dem Mundraub offenbar nichts bemerkt.
Natalia kletterte wieder durchs Fenster und hastete durch den Garten, vorbei an der Katze, die nur träge den Kopf hob. Sie rannte über die Straße und kehrte in den Wald zurück.
Lange stieg sie bergauf. Seitdem sie zu essen hatte, fühlte sie sich sicherer. Sie entdeckte mehrere Plätze, die ihr günstig schienen, aber es war noch nicht das, was ihr vorschwebte. Endlich kam sie zu einer Lichtung mit einem flachen Felsen in der Mitte, fast wie ein Tisch, und in der Nähe floss, unsichtbar, doch an seinem Murmeln zu erkennen, ein Bächlein. Ob es derselbe Bach war, dem sie am Morgen eine Zeit lang gefolgt war? Es konnte sein Oberlauf sein – sie war jetzt ja viel höher. Sicher konnte man das Wasser problemlos trinken. So oder so hatte sie keine andere Wahl.
Sie setzte sich auf den Stein und packte ihre Vorräte aus. Heißhungrig verspeiste sie die beiden Würste mit Brot, einen Joghurt, ein Stück Schokolade und die Hälfte der Kekse; den Rest hob sie für später auf. Dann ging sie zum Bach und trank aus den hohlen Händen, die sie unter einen kleinen Wasserfall hielt. Glasklar war das Wasser und schmeckte köstlich.
Endlich gesättigt schlief sie auf dem Felsen ein. Angenehm warm war es, hier oben hatte die Sonne nichts Stechendes. Als Natalia wieder aufwachte, hatte sie das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Sie hatte keine Uhr, und am Stand der Sonne konnte sie nicht ermessen, wie lang sie geschlafen hatte.
Sie griff nach ihrer Handtasche und leerte sie auf dem Felsen aus. In Zukunft musste sie sich mit ihrem Besitz begnügen – das Risiko, in Häuser einzubrechen, durfte sie nicht allzu oft eingehen.
Ihre Tasche enthielt:
ein Schminktäschchen mit Augen-Make-up,
einen Lippenstift,
einen Kamm,
einen Taschenspiegel,
Papiertaschentücher,
eine Geldbörse mit zweiundfünfzig Franken,
eine Ausweishülle mit ihrem Bahn-Abo und der Bankomatkarte,
einen Antistress-Ball,
zwei Ohrstöpsel,
eine Schachtel mit fünf Tampons,
eine Sonnenbrille,
einen Terminkalender,
zwei Kugelschreiber und
einen USB-Stick.
Nichts, was für ein Leben im Wald hilfreich war. Bis auf die Sonnenbrille und vielleicht auch die Taschentücher und Tampons. Aber nichts, das ihr die Suche nach Nahrung erleichterte, und nichts Wärmendes gegen die Kälte der Nacht.
Natalia wollte so lange im Schutz des Waldes bleiben, bis ihr wieder einfiel, wie sie hierher geraten war. Sie wusste, dass sie knapp dem Tod entronnen war, aber von welcher Seite die Gefahr drohte und weshalb, war ihr ein Rätsel. In Sicherheit war sie jedenfalls nicht. Jemand suchte nach ihr, und wem konnte sie trauen? Sie fühlte sich unsäglich allein, wie abgeschnitten von der Welt: ausgesetzt in einem feindlichen Land und einem Volk, dessen Sprache
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