Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Hand wieder zurück.
»Verstehe, der Fischgeruch.«
Natalia sah ihn an, als erwartete sie etwas von ihm. »Was machst du denn da heroben?«, fragte er.
Noch eine Frage.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
Natalia starrte ihn an und blieb stumm.
»Wenn du dich verlaufen hast, kann ich dir vielleicht helfen.«
Hatte sie sich verlaufen? Nein, das war keine Frage. Konnte er ihr helfen?
»Okay. Wenn du die Geheimnisvolle spielen willst, bitte … Hey!«
Der Junge brach jäh ab. Jetzt starrte auch er sie mit aufgerissenen Augen an. Sekundenlang standen sie einander reglos gegenüber, sie ein Stück über ihm, am Saum des Waldes, er am Flussufer.
Dann sagte der Junge: »Ich glaube, ich weiß, wer du bist.«
Rechtsanwalt Corrado Bossi war ein liebenswürdiger Mann. Jede einzelne seiner Gesten war Ausdruck der Zurückhaltung, die seine zweite Natur war, fast als entschuldigte er sich im Voraus für eine allfällige Zudringlichkeit. Seine Augen verrieten grenzenlose Geduld, Stimme und Tonfall waren ruhig und leise. Über seiner kahlen Kopfkrone lag, wie ein Anflug von Ironie, ein fixierter Schopf langer Strähnen, die er von der rechten Schläfe herüberzukämmen pflegte. Doch seiner harmlosen Erscheinung zum Trotz war Bossi ein exzellenter Anwalt, ja eigentlich verdankte er es gerade dem strategischen Einsatz seiner scheinbaren Sanftmut, dass er stets seinen Willen durchsetzte.
»Sie haben doch vorher gewusst, dass ich Ihnen nichts sagen kann«, sagte er zu Commissario De Marchi. »Warum sind Sie trotzdem gekommen?«
De Marchi ließ sich sekundenlang Zeit, ehe er antwortete: »Wegen dem Mädchen.«
»Natalia?«
»Sie werden mir vielleicht sagen, dass der Tod von Enzo und Sonia Rocchi …«
»Enzo ist an einem Herzinfarkt gestorben.«
»Und gleich darauf hat jemand seine Frau umgebracht. Mag sein, dass die juristischen Anliegen der beiden nichts damit zu tun haben …«
»So ist es.«
»Aber wir müssen Natalia Rocchi finden, das hat für uns Vorrang.«
»Das ist mir klar. Ich würde Ihnen gern helfen, wenn ich könnte.«
»Wissen Sie wirklich nichts?«
»Wirklich nicht. Ich befasse mich lediglich mit den geschäftlichen Angelegenheiten. Häuser, Erbschaftsfragen. Nichts Wichtiges.«
»Gar nichts Ungewöhnliches? Irgendeine Verbindung mit der Tochter?«
Bossi hatte seine Kanzlei in der Via Balestra in Lugano. Von seinem Büro blickte er auf den Turm eines Parkhauses auf der anderen Straßenseite. Es war eine vielbefahrene Straße, aber Bossi machte der Lärm nichts aus, er hatte sogar die Fenster offen stehen. Aber nach De Marchis letzter Frage stand er auf und schloss sie. Er setzte sich wieder und faltete die Hände vor sich, ehe er antwortete. »Vielleicht gibt es doch etwas«, sagte er.
»Nämlich?«, fragte De Marchi ermutigend.
»Ein paar Tage vor seinem Tod wollte sich Enzo mit mir zum Mittagessen verabreden. Und nachdem er gestorben war, hat seine Frau mich angerufen.«
Bossi verstummte nachdenklich. De Marchi begriff, dass der Anwalt alle drei bis vier Sätze einen neuen Ansporn brauchte. »Was wollte sie denn?«, ermunterte er ihn.
»Sie hat bei den Papieren ihres Mannes gewisse Unterlagen gefunden. Anscheinend stellte er irgendwelche Ermittlungen an. Sie wollte mir nicht sagen, worum es ging; sie müsse noch was überprüfen, bevor sie mich in der Sache konsultiert, sagte sie.«
»Überprüfen? Was denn? Und wie?«
»Weiß ich nicht.« Bossi schüttelte den Kopf. »Offen gestanden, ich glaube nicht, dass es etwas Schwerwiegendes war. Wissen Sie, ab und zu hat sich eine staatliche Behörde oder ein Amt wegen eines Gutachtens oder einer Untersuchung an Enzo gewandt. Soweit ich verstanden habe, ging es um Nachtclubs – aber Sonia hat wirklich nur eine Andeutung gemacht.«
De Marchi sah ihn an, als hätte er in einer fremden Sprache gesprochen.
»Mehr weiß ich wirklich nicht, Herr Kommissär.«
»Nachtclubs?«
»Richtig.«
»Verstehe ich nicht.«
Bossi breitete die Hände aus.
»Ich kann mir höchstens vorstellen, dass es um eine Erhebung über den Gesundheitszustand von Varietékünstlerinnen ging. Vielleicht kann Ihnen ja sein Partner weiterhelfen, Doktor Mankell.«
»Mit Natalia kann das nichts zu tun haben?«
»Keine Ahnung. Aber das glaube ich nicht, das Mädchen ist doch noch in der Schule.«
De Marchi schnaubte. »Das heißt gar nichts«, sagte er. »Apropos: Was glauben Sie denn, wo sie ist?«
Der Anwalt runzelte die Stirn. »Das fragen Sie mich? Ich habe nicht die
Weitere Kostenlose Bücher