Elia Contini 03 - Das Verschwinden
fühlen, wie das Papier ist und wie die Druckfarbe.«
Giovanni unterstrich seine Worte mit Gesten, und er drehte sich zu ihr, um sich zu vergewissern, dass Natalia ihm noch folgte. Auf die Ellenbogen gestützt, die Beine ausgestreckt, lag sie im Gras und beantwortete seinen fragenden Blick mit einem Nicken. Giovanni, der die Sonne im Rücken hatte, warf seinen Schatten auf sie. Er war groß und mager, hatte schwarze, an den Schläfen immer leicht zerzauste Haare und einen gedankenverlorenen Blick, und er machte insgesamt den Eindruck eines ruhigen, bedächtigen Typs.
»Wie viel …«, rang sich Natalia ab. »Wie viel wohne ich bei euch …«
»Wie lange, meinst du? Weiß ich nicht. Ich schätze, du kannst schon noch eine Weile bleiben. So lang du willst.«
»Weile? Das ist komisch. Eine Weile.«
»Du musst nur mal nach Lugano zur …« Giovanni zögerte. »Zur Beerdigung deiner Mutter«, schloss er.
Natalia sah im Geist einen Sarg vor sich und verstand, was mit »Beerdigung« gemeint war – die Beisetzung, das Begräbnis. Sie erinnerte sich an die Beerdigung ihres Vaters.
»Wann?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Morgen oder übermorgen. Tut mir leid, Natalia.«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Danke«, sagte sie.
Giovanni schwieg.
»Schön«, sagte Natalia jetzt, »die Weile vor dem Gewitter.«
Beide blickten zum Monte Basso hinüber. Minutenlang saßen sie schweigend da und lauschten dem Plätschern der Quelle und dem Zirpen der Grillen.
Die Schweiz liegt im Herzen Europas wie ein Floß in einem Seehafen. Eingezwängt zwischen großen Nachbarn, nimmt sie sich ein bisschen vom einen und ein bisschen vom anderen. Besonders der Kanton Tessin: Er liegt zwar nördlicher als Norditalien, innerhalb der Konföderation aber gilt er als Verkörperung eines mediterranen Laissez-faire, als Land der Strände und Zitronen oder, wie die Deutschschweizer gern sagen, als »Sonnenstube«.
Im Grunde, dachte Luciano Savi, ist man, solange man nicht am Südpol ist, sowieso immer südlich von jemandem. Er persönlich nutzte diese Ambivalenz zu seinem Vorteil und bediente mit helvetischer Gründlichkeit eine vorwiegend italienische Kundschaft. Sie kamen abends mit ihren SUVs und dicken Audis über die Autobahn, die sie bei Bellinzona Nord verließen: Zum Tukan war es dann nicht mehr weit.
Savi, der zu Fuß unterwegs war, dachte über die Zukunft nach. Er hatte sich in Arbedo-Castione seine Höhle geschaffen und war nicht gewillt, sie aufzugeben – nicht zuletzt deshalb, weil er sich Rosalba hier nahe fühlte. Die Gemeinde war in erster Linie Peripherie von Bellinzona: eine Handvoll Häuser zwischen der Stadt und der Autobahn, zwei, drei mehrstöckige Zinshäuser, die unvermeidliche Mehrzweckhalle und ein paar mehr oder minder harmlose Lokale.
Savis Lokal war das am wenigsten harmlose.
Das war für niemanden ein Geheimnis, und Savi machte auch gar kein Hehl daraus. Vor einem Werbeplakat, das er anstarrte, ohne es wahrzunehmen, blieb er stehen und dachte über Recht und Unrecht nach. In der Schweiz ist Prostitution legal, sowohl auf Bundes- wie auf Kantonsebene. Allerdings hat jeder Kanton seine eigene Verfassung und Verwaltung, und das Tessin zählt an sich nicht zu den enthemmtesten Kantonen.
Gesetze, die ihn betrafen, pflegte Savi genau zu studieren, ebenso einschlägige administrative Maßnahmen und politische Vorstöße. Jüngst hatten etliche Politiker gefordert, den auf Prostituierten lastenden Steuerdruck zu reduzieren, um sie nicht zur Schwarzarbeit zu verleiten, aber das kantonale Parlament hatte den Antrag abgewiesen. Vielleicht weil den Abgeordneten im Grunde ihres Herzens klar war, dass das »Dirnenwesen«, wie sie es nannten, auch Schattenbereiche braucht.
Savi wiederum war überzeugt, dass er eine zwar schlecht angesehene, womöglich bedauerliche, nichtsdestoweniger aber unverzichtbare Dienstleistung erbrachte. Seine Strategie bestand darin, sich stets auf dem schmalen Grat zwischen Legalität und Grauzonen im Gleichgewicht zu bewegen. Bei Prostituierten ging der Staat von einem Jahreseinkommen von fünfzigtausend Franken netto aus: Hätte Savi diesen Lohn inklusive Nebenkosten zahlen müssen, wäre er ruiniert gewesen. Manche Mädchen arbeiteten offiziell, zahlten Steuern, erhielten eine kostenlose ärztliche Versorgung. Aber Savi ließ auch Mädchen ohne Schweizer Aufenthaltsbewilligung für sich arbeiten. Dazu kam, dass der kantonale Amtsarzt äußerst pingelig war, was die Einhaltung der
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