Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Titel: Elia Contini 03 - Das Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
Vom Netzwerk:
schon. Da müsste ich aber …«
    »Und wo waren Sie?«
    »Wenn wir geschlossen hatten, war ich im Bett. Ich gehe gern früh schlafen, wenn es geht.«
    »Reden wir nicht um den heißen Brei herum, Savi. Von dem Mord an Sonia Rocchi führt eine Spur zu Ihrem Lokal. Sind Sie bereit, mit uns zusammenzuarbeiten?«
    »Aber selbstverständlich!« Savi breitete die Arme aus. »Was immer Sie wollen!«
    »Wer ist diese Frau? Eine von Ihren …«
    Aus Savis Tonfall war mit einem Schlag alle Honigsüße verschwunden. »Stellen Sie das sofort wieder hin!«, fauchte er.
    Der Kommissär hatte Rosalbas gerahmtes Porträt vom Schreibtisch genommen, und als er der Aufforderung nicht gleich nachkam, sprang Savi auf und riss es ihm wutschnaubend aus der Hand. Gleich darauf bedauerte er seinen Ausbruch. »Das ist meine Frau«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Das geht Sie nichts an.«
    Der Kommissär sah ihn mit Unschuldsmiene an. »Wie heißt sie?«
    »Das geht Sie nichts an!«
    Savi sprach den Namen seiner Frau nie mehr aus. Es wäre ihm wie ein Verrat vorgekommen, so als zöge er sie durch den Schmutz. Der Kommissär sah ihn sekundenlang fragend an, dann wiederholte er: »Also Savi, wie steht’s, sind Sie bereit, mit uns zusammenzuarbeiten?«
    »In welcher Sache?«
    »Wegen des Verbrechens von Corvesco.«
    »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht weiß, wie …«
    »Machen Sie mir eine Liste mit den Namen aller Personen, die an den Tagen vor dem ersten August im Tukan waren.«
    »Auch von den Gästen? Die kenne ich doch nicht alle mit Namen!«
    »Der eine oder andere Name wird Ihnen schon einfallen. Die Mädchen, die Gäste, die Freunde und die Freunde der Freunde: Mich interessieren alle. Und dann schauen Sie in Ihren Unterlagen nach und sagen mir, ob Doktor Rocchi nicht zufällig doch mit dem Tukan zu tun hatte.«
    »Das kann ich tun, aber …«
    »Wäre doch dumm, oder, wenn wir es vor Ihnen herausfänden?«

5
Unschuld
    Natalia Rocchi lauschte dem Gesang der Heuschrecken vor dem Fenster.
    Sie war stolz auf sich, weil sie sich an »Heuschrecken« erinnerte und an »Fenster«. Aber das Wichtige entglitt ihr nach wie vor. Für einen Moment waren Erinnerungsbruchstücke aufgeblitzt – ein Streit zwischen diesem Mann und ihrer Mutter, ihre Flucht in den Baum. Nein, ins Laub … nein, in … Es fiel ihr nicht ein. Sie presste die Augenlider zusammen, verkniff sich die Tränen. Wie hieß das nur?
    Seitdem sie begonnen hatte, sich zu erinnern, hatte sie keine Ruhe mehr. Sie wusste, dass sie irgendwo etwas versteckt hatte, aber sie erinnerte sich nicht, wo, weshalb und was es überhaupt war. Es hatte mit dem Rauch zu tun, dem Rauch, der ihr Zuhause umgebracht hatte … nein, nicht ihr Zuhause, ihre … Und doch war es da, der Begriff existierte. Sie wusste, dass sie Waise war. Sie wusste, dass sie keine … dass sie keine Eltern mehr hatte. So, dieses Wort war da. Mutter. Ein Mann hatte ihre Mutter umgebracht.
    Mutter. Mama.
    Natalia weinte lautlos, im Sessel sitzend. Jemand klopfte an die Tür.
    »Darf ich?«
    Es war Giovanni. Natalia wischte sich die Tränen ab.
    Sie wollte sich nicht gehen lassen. Sie war immer stolz auf ihre Unabhängigkeit gewesen, nie hatte sie in Krisen geschwelgt, nie sich von den Stürmen der Pubertät hinwegfegen lassen. Im Gegenteil – als sie sechzehn wurde, war sie sicher gewesen, dass sie es hinter sich hatte.
    »Stör ich?«
    Und jetzt war sie auf fremde Hilfe angewiesen. War zu hundert Prozent von anderen Leuten abhängig.
    »Hast du Lust, mit mir rauszugehen? Spazieren?«
    Natalia bemühte sich, nicht zu weinen. Er war wirklich nett, er stand auf ihrer Seite. Aber sie verstand nicht, was er wollte. Sie brachte nur ein Wort heraus: »Was?«
    »Was«, das ging immerhin.
    »Spa-zie-ren.«
    Der Arzt hatte ihm geraten, die Silben getrennt und möglichst deutlich auszusprechen.
    »Spazieren?«, wiederholte Natalia.
    Die Hände in den Hosentaschen, die Gegend betrachtend, mimte Giovanni eine schlendernde Person. Natalia erfasste den Begriff: gehen zum Vergnügen, ohne Eile und ohne ein bestimmtes Ziel.
    Giovanni beendete seine Pantomime. »Spazieren. Gehen wir?«
    Natalia sah ihn an, und sie mussten beide lachen. Dann stand sie auf und folgte ihm zur Tür.
    Sie schlugen den Weg zum oberen Teil von Corvesco ein. Natalia erkannte die Gegend: ein Dorf am Berghang, eine Randgemeinde, im Kanton Tessin. Natalia wusste alles. Bald kam ihr auch wieder in den Sinn, wo sie als Kind gespielt hatte, wo sie

Weitere Kostenlose Bücher