Elia Contini 03 - Das Verschwinden
mit ihren Eltern gewesen war. Vater. Mutter. Endlos dehnte sich der Sommer vor ihr, eine lange Reihe sonniger Nachmittage, an denen das Gras im hellen Licht leuchtete. Alles wiederholte sich, Jahr für Jahr. Die Sonne, das Gras. Die Leute.
»Die Sonne scheint«, sagte Natalia.
»Hey«, sagte Giovanni anerkennend. Und fügte hinzu: »Weißt du, wenn man mit dir zusammen ist, kommt einem das Reden ganz komisch vor.«
Gleich darauf hatte er das Gefühl, in ein Fettnäpfchen getreten zu sein. Natalia lächelte, aber er genierte sich und versuchte sich herauszureden. »Das ist nicht bös gemeint, gell? Ich meine, ich weiß , dass du nicht reden kannst, weil du eine Aphasie hast.«
Natalia nickte.
»Es stört mich gar nicht, dass du still bist.«
Natalia verstand nicht jedes Wort, aber sie erfasste Giovannis Verlegenheit.
»Bestimmt wirst du irgendwann mehr reden als ich«, sagte er.
Natalia versuchte etwas zu sagen, das ihm die Befangenheit nahm. Aber es war nicht einfach, sich auf die Schnelle etwas einfallen zu lassen.
»Heute geht’s dir besser«, sagte er aufmunternd. »Wollen wir was trinken? Wir könnten zu Pepito.«
Natalia erinnerte sich, dass Pepito der Ort war, an dem man etwas trinken ging, ein Lokal, ein Restaurant. Aber sie wollte nicht so viele Leute treffen. Unter Aufbietung größter Konzentration sagte sie: »Zu viele Hände. Lieber wohin gehen, wo es Gras hat, über den Häusern.«
»Sollen wir zu den Wiesen hinaufgehen?«
Wiesen, das war es.
»Ja«, sagte Natalia. »Da ist der …«
»Der Weg.«
»Weg.« Natalia hatte eine Erleuchtung. »Wald!«, rief sie.
»Was?«
»Das … das Wort habe ich gesucht! Ich war im Wald, nachdem … nachdem …«
Einen Moment lang geriet wieder alles durcheinander, und Natalias Kopf drehte sich. Nicht übertreiben, dachte sie. Giovanni berührte leicht ihren Arm und fragte: »Alles okay?«
Natalia nickte und suchte Giovannis Hand. Sie drückte sie, und er sah sie wortlos an. Dann machten sie sich auf den Weg, verließen das Haus und folgten der Straße, bis in einer Kurve der Wanderweg zum Wald hinauf abbog. Irgendwann fragte Natalia: »Im Wald hast du … hast du ge…«
»…angelt.«
»…angelt?«
»Ja, das war es, was ich neulich getan habe. Ich habe Forellen geangelt.«
»Forellen.«
»Aber heute ist es zu heiß dafür. Lieber im Schatten spazieren gehen.«
Natalia lächelte.
Der Weg führte am Waldrand entlang und dann über eine weite Lichtung, ein Stück unterhalb von Continis Haus. An einer Quelle, die als klares Bächlein aus dem Felsen sprudelte und sich in einem hölzernen Trog darunter sammelte, blieben die beiden stehen, und Natalia beugte sich vor, um einen Schluck zu trinken. Giovanni betrachtete den Himmel und sagte: »Das Wetter schlägt um. Vielleicht regnet es schon heute Abend.«
Natalia folgte seinem Blick. Der Gipfel des Monte Basso war schon in den Wolken verschwunden, und vom Norden her näherte sich eine dunkelgraue Front.
»Ein Blitz«, sagte Natalia. »Nein, warte …«
Giovanni sah sie erwartungsvoll an. Sie sagte: »Ein Gewitter. Richtig?«
»Ja, ein Gewitter. Setzen wir uns kurz?«
Sie setzten sich neben der Quelle ins Gras. Unter ihnen lagen die Dächer von Corvesco, und über ihnen verlief der dunkle Saum des Waldes.
»Bald geht es mit der Arbeit wieder los«, sagte Giovanni. »Ich fange in einem neuen Betrieb an.«
Natalia sah ihn fragend an.
»Ich habe immer ein paar Monate Schule und ein paar Monate Arbeit, abwechselnd. Aber ich sag dir – Arbeiten ist mir sehr viel lieber. Da hat man wenigstens das Gefühl, dass man was macht , verstehst du? Es kommt was raus dabei, man sieht, was man getan hat, und kann sich sagen: gute Arbeit.«
Natalia hörte ihm gern zu. Sie erkannte, dass er sonst eigentlich kein großer Redner war und jetzt irgendwie einen Dialog mit ihrem Schweigen suchte. Sie hätte ihn gern unterstützt, aber die ständige Suche nach Wörtern strengte sie so an, dass sie es paradiesisch fand, sich einfach hier im Gras auszustrecken und die Erinnerungsarbeit für eine Weile ruhen zu lassen.
»Das Schöne an diesem Beruf ist, dass er noch was ganz Handfestes hat. Klar, man arbeitet viel am Computer. Früher gab es ja die Bleibuchstaben, alles wurde von Hand gesetzt. Heute wird das Meiste digital gemacht, aber es gibt immer noch die Maschinen, die bedient werden müssen, und um die Qualität eines gesetzten Textes zu kontrollieren, muss man immer noch einen Probeabdruck machen und sehen und
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