Elkes Sommer im Sonnenhof
später raste Elke querfeldein
hinter einem Jungen her. Es gelang ihr, ihn einzuholen und festzuhalten, bis
Achim herbeikam, der dem Kutscher Heinrich ihre beiden Pferde zum Festhalten
übergeben hatte.
„Laß ihn nur laufen“, sagte Achim jetzt. „Ich
weiß ja, wie er heißt. Das ist Max Mende. Laß ihn doch los! Er reißt dir noch
deinen Ärmel aus! Ich sage meinem Vater, was er getan hat. Der wird ihn sich
schon vornehmen!“
Max, ein kümmerlich aussehender, strohblonder
Junge, maß die beiden Kinder mit feindseligen Blicken, und dann rannte er
davon.
Tatsächlich schickte Herr Wendel noch am
gleichen Abend Heinrich in die Wohnung des Tagelöhners Mende, um Max holen zu
lassen. Maxens Vater war zufällig nicht zu Hause; er war ein träger,
streitsüchtiger Mensch, der in keinem guten Ruf stand, und er würde es nie
zugegeben haben, daß Max auf den Sonnenhof gebracht wurde, damit er sich dort
verantwortete. Aber Maxens Mutter war eine vernünftige Frau, und sie brachte
ihren Sohn selbst bis dicht vor Wendels Haus.
Über eine Viertelstunde lang war Max bei Herrn
Wendel im Zimmer. Der Junge sagte, er habe Achims wegen das Tau gespannt. Er
bekam eine sehr ernste Verwarnung, und Herr Wendel drohte ihm sogar mit der
Polizei, falls er sich solchen schlimmen Unfug noch einmal einfallen lassen
sollte. Die Pferde hätten stürzen und die Reiter lebensgefährliche Verletzungen
davontragen können.
Max ging verstockt weg, und beim Fortgehen warf
er auf Achim und Elke einen so bösen Blick, daß Achim nachher sagte: „Du, vor
Max müssen wir uns in acht nehmen. Vor allem du, glaube ich, weil du ihn
festgehalten hast. Wenn er dich einmal trifft, verhaut er dich!“ - -
Die Wochen vergingen, und das Erlebnis mit Max
geriet in Vergessenheit. Da kam aber ein Tag, an dem es Elke jäh ins Bewußtsein
zurückgerufen wurde.
Es war ihr nämlich zur Gewohnheit geworden, dann
und wann ganz allein durch die Felder und Wiesen zu streifen. Meistens nahm sie
dabei ihren Ali mit, aber es kam auch vor, daß der Hund bei Katje oder bei
Achim blieb oder sich zusammen mit dem alten Dobermann Udo in dessen Korb zum
Schlafen legte.
Heute ging Elke allein, um Sumpfvergißmeinnicht
zu pflücken. Sie pflückte ihre Blumen und entfernte sich dabei immer weiter vom
Dorf. Plötzlich befand sie sich auf einer Weide mit grasenden Ochsen. Das
merkte sie aber leider erst zu spät. Ein großes rotweißes, starkes Tier kam mit
erhobenem Schwanz auf sie zugerannt, und zwar gerade aus der Richtung, aus der
sie selbst gekommen war. Sonst hätte sie zurücklaufen und sich schnell retten
können mit einem Sprung über die schmale Stelle des Grabens, die sie vorhin
überquert hatte.
Elke war keine furchtsame Natur, aber vor Ochsen
hatte sie Angst. Es war auch gerade vor kurzem in der Gegend vorgekommen, daß
ein Knecht durch ein wildgewordenes Tier schwer verletzt worden war.
Ihr stockte der Atem. Was sollte sie tun?
Gott sei Dank, daß wenigstens ein Baum auf der
Weide stand! Sie lief auf diesen Baum zu, um hinter seinem Stamm Schutz zu
suchen. Aber wenn nun auch die anderen Ochsen auf sie zugelaufen kamen und sie
von mehreren Seiten bedrängten?
Oh, es war entsetzlich! Wenn nur ein Mensch in
der Nähe wäre! Irgendein Mensch, der ihr helfen konnte!
Da sah sie durch die Hecke hindurch einen Jungen
näher kommen. Sie atmete auf. Sie begann zu rufen, zu schreien, denn auch
andere Ochsen kamen jetzt näher. Der Junge begann zu laufen, kletterte durch
die Hecke. Nun stand er still.
Da sah sie, daß der Junge — Max Mende war.
Max, der Feind! Nein, der würde ihr nicht
helfen. Nie im Leben würde der ihr helfen!
Elke stand mit zitternden Gliedern da und schloß
die Augen. Angst und Entsetzen lähmten ihre Gedanken. Die Vergißmeinnicht in
ihren krampfhaft geschlossenen, heißen Händen ließen die Köpfe hängen.
Da hörte sie plötzlich eine ruhige Stimme neben
sich: „Du kannst hier doch nicht stehenbleiben! Komm mit! Ich gebe dir Deckung.“
Das war Max. Er hatte eine dünne Gerte in der
Hand, einen kleinen Zweig, von dem er die unteren Blätter abgestreift hatte,
und damit hielt er den Ochsen in Schach, vor dem Elke sich so fürchtete.
Ganz langsam, einem Schritt hinter den anderen
setzend, verließen die Kinder dann, rückwärts gehend, die Wiese. Der Ochse
folgte ihnen mit gesenktem Kopf, aber Elke war jetzt außer Gefahr, denn
zwischen ihr und dem Tier befand sich Max.
Nach dem Überklettern des Heckentores war
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