Ellernklipp
Du schüttelst den Kopf und willst von des Uria Weib nichts wissen. Aber du darfst es ihr nicht anrechnen, daß der König ihren Mann an die gefährliche Stelle schickte. Das tat eben der König. Und sie konnt es nicht ändern... Oder gefällt dir Judith?«
»Auch
die
nicht. Judith am wenigsten.«
»Warum?«
»Weil sie den Holofernes mordete, listig und grausam, und seinen Kopf in einen Sack steckte. Nein, ich mag kein Blut sehen, an mir nicht und an anderen nicht.«
»Ich will es gelten lassen. Aber wer soll es
dann
sein, Hilde? Wer gefällt dir?«
»Ruth.«
»Ruth«, wiederholte Sörgel. »Eine gute Wahl. Aber du weißt doch, sie war eine Witwe.«
So plauderte der Alte mit seinen Konfirmanden, und wenn dann die Stunde vorüber war, schlenderten Martin und Hilde wieder heim, im Winter an dem Stachelginster vorbei, der neben der Kirchhofsmauer hinlief, im Sommer über den Kirchhof selbst, wo sie hinter den Büschen Verstecken spielten. Oft aber wollte Hilde nicht, sondern blieb allein und setzte sich abwärts auf eine Steinbank, wo der Quell aus dem Berge kam und wo Gartengeräte standen und große Gießkannen, um die Gräber damit zu begießen. Und von dieser Bank aus sah sie, wie die Lichter einfielen und vor ihr tanzten und wie die Hummeln von einer hohen Staude zur anderen flogen: von dem Rittersporn auf den roten Fingerhut und von dem roten auf den gelben. Den liebte sie zumeist und freute sich immer und zählte die Schwingungen, wenn er unter dem Anprall der dicken Hummeln ins Schaukeln und Schwanken kam. Und dann erhob sie sich und ging auf ihrer Mutter Grab zu, das nichts als ein paar Blumen und ein blaues Kreuz mit einem Dach und einer gelben Inschrift hatte: »Erdmuthe Rochussen, geb. den 1. Mai 1735, gest. den 30. Sept. 1767.« Und immer wenn sie den Namen las und den Spruch darunter, stiegen ihrer Kindheit Bilder wieder vor ihr auf, und sie sah sich wieder auf der Hofschwelle sitzen, und an der anderen Seite der Diele, der Vordertür zu, saß ihre Mutter und schwieg und spann. Und dann hörte sie sich rufen: »Hilde!«, ach, leise nur, und sie lief auf die Mutter zu, die plötzlich wie verändert war und ihr das Haar strich und fühlte, wie fein es sei.
So waren die Bilder, denen sie nachhing, und während sie so sann und träumte, pflückte sie von den Grashalmen, die das Grab umstanden, flocht einen Kranz, hing ihn an das Dach und ging im Zickzack auf die höher gelegene Kirchhofsstelle zu, wo die Gräflichen ihre Ruhestätte hatten, eingehegt und eingegittert und von einem hohen Marmorkreuz überragt. Das leuchtete weithin, und ein Zeichen war darauf, das sie nicht deuten konnte. Zu Füßen des Kreuzes aber lagen allerhand Steinplatten, einige von Schiefer, andere von Granit, auf deren einer in Goldbuchstaben zu lesen war: »Adalbert Ulrich Graf von Emmerode, geb. am 1. Mai 1733, gefallen vor Prag am 6. Mai 1757.« Und immer wenn sie dies sah und las, gedachte sie der vielen, vielen Tage, wo sie mit ihrer Mutter an eben dieser Stelle gestanden hatte, manchmal in aller Frühe schon, wenn der Tau noch lag, und öfter noch bei Sonnenuntergang. Und niemals waren sie gestört worden, außer ein einzig Mal, wo die Gräfin unvermutet und plötzlich am Gittereingang erschienen war. Und das war ihr unvergessen geblieben und mußt es wohl, denn ihre Mutter hatte sie rasch und ängstlich zurückgerissen und sich und sie hinter eine hohe Brombeerhecke versteckt.
»Sie sollen Geschwister sein«, hatte Baltzer Bocholt gesagt; im Dorf aber hieß es nach wie vor, daß des Heidereiters Hilde der Muthe Kind sei, der Muthe Rochussen, und eigentlich auch
das
nicht mal. Eine Mutter habe die Hilde freilich gehabt, gewiß, eine Mutter habe jeder, und das sei denn auch die
Muthe
gewesen. Aber ob es die Muthe
Rochussen
gewesen,
damals
schon gewesen, das sei doch noch sehr die Frage. Das wüßten die drüben besser, die Lebendigen und die Toten.
Es konnte natürlich nicht ausbleiben, daß der Heidereiter von solchem Gerede hörte, weil er aber störrisch und eigensinnig war, so war es ihm nur ein Grund mehr, die Hilde so recht zu seinem Lieblingskinde zu machen. Es war eigentlich nur eines, was ihn an ihr verdroß: ihre Müdigkeit. Sie war ihm zu lasch, und wenn sie so dasaß, den Kopf auf die Schulter gelehnt, so rief er ihr ärgerlich zu: »Kopf in die Höh, Hilde!
Bei Tag ist Arbeitszeit und nicht Schlafenszeit; das lieb ich nicht. Aber was ich noch weniger lieb als das Schlafen, das ist die Schläfrigkeit.
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