Elsa ungeheuer (German Edition)
Welt der Graugänse. Ich nahm das Buch in die Hand. Von selbst öffneten sich die abgegriffenen Seiten des 6. Kapitels.
Der Flug der Graugans.
Wenn eine Gans erkrankt oder verletzt wird, beispielsweise durch eine Gewehrkugel, und aus der Formation ausfällt, verlassen zwei weitere Gänse die Schar und folgen ihr, um ihr zu helfen und sie zu beschützen. Sie bleiben so lange bei dem geschwächten Tier, bis es entweder wieder fliegen kann oder stirbt.
Unter dem Abschnitt hatte eine zittrige Hand mit grüner Tinte das Wort GNADE geschrieben, und daneben: ENDE .
Es wurde ruhig um den Künstler, der die Ewigkeit auf Leinwand bannen wollte.
Ohne eine Zugabe der Graham-Sammlung zeigte kein Auktionshaus Interesse, die dritte Lizenz in seinen Katalog aufzunehmen.
Das Artfact Magazine widmete Brauer einen letzten Artikel.
›2041. Wir melden uns zurück – oder auch nicht.‹ Unter der Headline das Bild einer schwarzen Leinwand.
Auf 580 Zeilen sinnierte der Chefredakteur, ob es sich lohne, einen Prozess 43 Jahre lang zu begleiten, dessen angekündigtes Ergebnis ein fast schwarzes Gemälde sei. Vier Jahrzehnte Vorschusslorbeeren könne keiner erwarten.
Ich lebte das Leben meines Vaters, auszugsweise.
Karl Brauer: Fast-Hotelier und Saisonarbeiter in der Kartoffelchips-Fabrik.
Eine neue Kratzlerin hatte Einzug gehalten: Mareile Fritsche, fünfzig Jahre alt und trotz eines lahmen Beins stark wie zehn Pferde.
Die Nachfolgerin der ältesten Frau der Welt trug nicht den Namen des Gottessohns auf den Lippen, sondern wünschte jeden und alles zum Teufel. Eine erfrischende Abwechslung.
Epilog
Irinas letzter Wille.
Gnade.
Keiner legte Blumen auf ihr Grab.
Gnade.
Eine junge Künstlerin erhob gegen Mirberg Anklage wegen sexueller Nötigung. Neun weitere Frauen gaben zu Protokoll, ebenfalls von Sebastian Mirberg belästigt worden zu sein. Der Skandal war komplett, als sich herausstellte, dass eine von ihnen – Praktikantin der Aevum-Stiftung – erst siebzehn war.
Gnade.
Jaap van Dohl verkaufte Mrs. Grahams Villa, um in Süditalien ein Hotel zu eröffnen. Binnen zwei Jahren ging er Konkurs.
Gnade.
Vera Brauer zog mit ihrem Dealer Jerome in ein Dreizimmerappartement ohne Badewanne.
Gnade.
Mitten in der Nacht fuhr der Transporter auf meinen Hof.
»Ich wollte die Ewigkeit malen«, sagte er.
»Ja.«
»Und es hat mir etwas bedeutet.«
»Ja.«
»Karl, wie findet man wieder, was man verloren hat?«
»Mach die Augen auf«, sagte ich meinem Bruder.
Mit einem einzigen Koffer in der Hand begab er sich auf die Suche.
Gnade.
In der Scheune, die noch immer zwei Autowracks beherbergte, lehnte die Leinwand, 363 Zentimeter hoch und 473 Zentimeter breit.
Das zweigeteilte Gesicht des Murmeltiers. Die Erkenntnis, Motiv 4 der Ewigkeit .
Ich nahm das rostige Messer. Lackflocken fielen zu Boden.
Die Stille . Motiv 3. Der Schatten des schwimmenden Kindes verschwand.
Motiv 2. Die Sterblichkeit. Inmitten einer Feuersbrunst sechs Gestalten. Auch sie lösten sich in bunte Späne auf. Ich trat einen Schritt zurück.
Der Grund für alles.
Die Streichholzarme des Mädchens waren an einen Felsen gekettet.
Lange, gelockte braune Haare, glanzlos wie angelaufene Bronze.
Ihr magerer Oberkörper steckte in einer viel zu großen, durchsichtigen Taftbluse. Nachtblau. Dort, wo ein Frauenbusen hingehörte, labberte ein leeres Bikini-Oberteil. Die kurze Baumwollhose, grün mit weißen Herzchen, und die hölzernen Kinderclogs ließen die elegante Bluse noch grotesker erscheinen.
Um ihre Waden und Fesseln, die kräftiger wirkten als der Rest des Körpers, waren gleich den Gamaschen eines Pferdes bunte Bänder gewickelt.
Zu ihren Füßen kniete ein kleiner, fetter Junge, in seinen Händen hielt er eine Krone.
Ein zweiter Junge stand etwas abseits vor einer Staffelei. Einen Pinsel in der Hand, betrachtete er sein eben vollendetes Werk:
Dasselbe Mädchen, die Krone thronte auf ihrem Haupt, die Arme waren frei.
Gnade.
Foto: © Gaby Gerster/© Diogenes Verlag
ASTRID ROSENFELD wurde 1977 in Köln geboren. Nach dem Abitur ging sie für zwei Jahre nach Kalifornien, wo sie erste Berufserfahrungen am Theater sammelte. Danach begann sie eine Schauspielausbildung in Berlin, die sie nach anderthalb Jahren abbrach. Eine Zeitlang hat sie in diversen Jobs in der Filmbranche gearbeitet, unter anderem als Casterin. Ihr Debütroman Adams Erbe erschien 2011 und schaffte es auf Anhieb auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis.
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