Emil oder Ueber die Erziehung
anzueignen? Nein. Es hängt vonmir ab, nicht eigensinnig auf meinem Kopfe zu bestehen, mich allein nicht für klüger als die ganze Welt zu halten; es hängt von mir ab, nicht etwa meine Ansicht zu wechseln, wol aber der meinigen nicht unbedingt zu trauen: das ist Alles, was ich thun kann, und was ich wirklich thue. Wenn ich bisweilen einen absprechenden Ton annehme, so geschieht das keineswegs, um den Leser damit zu blenden, es geschieht vielmehr, um mit ihm so zu sprechen, wie ich denke. Warum soll ich meine Ideen, an deren Wichtigkeit ich für meinen Theil nicht im Geringsten zweifle, unter der Form des Zweifels zur Prüfung vorlegen? Ich schreibe genau, was in meinem Geiste vorgeht.
Indem ich meine Ansicht freimüthig darthue, bin ich so weit davon entfernt dieselbe von vornherein als eine ausgemachte Wahrheit hinzustellen, daß ich stets meine Gründe hinzufüge, damit man dieselben erwäge und mich danach beurtheile: aber obgleich ich meine Ideen durchaus nicht hartnäckig vertheidigen will, so halte ich mich doch nicht weniger für verpflichtet, sie zur Prüfung vorzulegen, denn die Grundsätze, hinsichtlich deren ich von den Ansichten Anderer völlig abweiche, sind durchaus nicht gleichgiltig. Sie gehören zu denjenigen, deren Wahrheit oder Unrichtigkeit zu kennen von höchster Wichtigkeit ist, und welche das Glück oder Unglück des menschlichen Geschlechts begründen.
Bringe nur Ausführbares zum Vorschlag, wiederholt man mir unaufhörlich. Das ist dasselbe, als ob man zu mir sagte: Schlage vor das zu thun, was man thut, oder schlage wenigstens etwas Gutes vor, das sich mit dem bestehenden Schlechten vereinigen läßt. Ein solches Project ist in Bezug auf bestimmte Gegenstände noch weit wunderlicherals meine Vorschläge, denn in dieser Vermischung verschlechtert sich das Gute, während sich das Schlechte nicht bessert. Ich würde lieber die einmal eingeführte Methode im Ganzen unverrückt beibehalten, als mir eine gute nur halb aneignen: es würde im Menschen dadurch ein geringerer Widerspruch hervorgerufen werden, weil er nicht nach zwei entgegengesetzten Zielen zu streben vermag. Väter und Mütter, das Ausführbare wollt ihr ja ausführen. Darf ich für euch einstehen?
Bei jedem Plan ist Zweierlei zu erwägen: erstens die absolute Güte des Plans und an zweiter Stelle die Leichtigkeit der Ausführung.
In ersterer Hinsicht genügt, um die Zulässigkeit und Ausführbarkeit des Plans an und für sich darzuthun, daß das in ihm vorhandene Gute in der Natur der Sache liegt, hier zum Beispiel, daß die vorgeschlagene Erziehung dem Menschen entsprechend und dem menschlichen Herzen völlig angemessen ist.
Die zweite Erwägung hängt von den in bestimmten Lagen gegebenen Verhältnissen ab, von in Bezug auf die Sache zufälligen Verhältnissen, welche mithin nicht nothwendig sind und bis ins Unendliche variiren können. So kann eine Erziehungsweise in der Schweiz ausführbar sein und in Frankreich nicht; eine andere kann sich bei den Bürgern bewähren und wieder eine andere unter den höhern Classen. Die mehr oder weniger große Leichtigkeit der Ausführung hängt von tausenderlei Umständen ab, die sich unmöglich anders als in einer besonderen Anpassung der Methode auf dieses oder jenes Land, auf diesen oder jenen Stand genau beschreiben lassen. Nun, alle diese besondern Variationen, die zu meinem Thema nicht wesentlich gehören,habe ich in meinem Plan nicht ausgenommen. Mögen sich Andere damit befassen, wenn sie wollen, Jeder mit Rücksicht auf das Land oder den Staat, welchen er im Auge hat. Mir genügt, daß man überall, wo Menschen geboren werden, aus ihnen das, was ich vorschlage, machen kann, und daß, wenn man aus ihnen das, was ich vorschlage, gemacht, man das ihnen selbst wie Anderen Heilsamste gethan hat. Wenn ich dies Versprechen nicht erfülle, dann habe ich unzweifelhaft Unrecht; wenn ich es aber erfülle, würde man auch Unrecht haben mehr von mir zu, verlangen; denn ich verspreche nur dieses.
Anmerkungen
[1] Frau von Chenonceaux
Erstes Buch
Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht; Alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt ein Land die Producte eines andren hervorzubringen, einen Baum die Früchte eines andern zu tragen; er vermischt und vermengt die Klimata, die Elemente, die Jahreszeiten; er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven; er stürzt Alles um, er verunstaltet Alles; er liebt das Unförmliche, die Mißgestalten; nichts
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