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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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welche man nur gezwungen annimmt und welche die Natur niemals ersticken? So verhält es sich zum Beispiel mit der Gewöhnung der Pflanzen, deren aufrechte Richtung man gewaltsam verändert. Die wieder ihrer Freiheit zurückgegebene Pflanze behält zwar die Neigung, die sie gezwungener Weise angenommen hat; aber der in ihr kreisende Saft hat deshalb seine ursprüngliche Richtung nicht aufgegeben, und wenn die Pflanze zu wachsen fortfährt, so kehren dieneuen Triebe zu der senkrechten Richtung zurück. Eben so verhält es sich mit den Neigungen der Menschen. So lange man in den nämlichen Verhältnissen verharrt, kann man diejenigen, welche der Gewohnheit entspringen, selbst wenn sie unsrer innersten Natur widerstreben, bewahren, sobald aber die Lage wechselt, schwächt sich die Gewohnheit ab und das natürliche Wesen kommt wieder zum Vorschein. Die Erziehung ist sicherlich nur Gewöhnung. Gibt es nun aber nicht Leute, welche ihre Erziehung vergessen und verlieren, und andere, welche sie bewahren? Woher kommt dieser Unterschied? Muß man die Benennung Natur auf die der Natur conformen Gewöhnungen beschränken, so kann man sich dieses Hinundhergerede ersparen.
    Mit Empfindungsvermögen werden wir geboren und von unsrer Geburt an sind wir den Einwirkungen der Gegenstände, die uns umgeben, in verschiedener Weise ausgesetzt. Sobald wir uns der erhaltenen Eindrücke, so zu sagen, bewußt werden, bildet sich in uns die Neigung die Gegenstände, welche sie hervorbringen, aufzusuchen oder zu fliehen, zuerst je nachdem sie angenehm oder unangenehm sind, später je nach der Uebereinstimmung oder dem Mangel an Uebereinstimmung, die wir zwischen uns und diesen Gegenständen finden, und endlich je nach den Urtheilen, die wir über dieselben nach der Vorstellung von Glück und Vollkommenheit fällen, welche uns die Vernunft gibt. Diese Neigungen oder Abneigungen erweitern und verstärken sich in dem Maße, wie wir empfänglicher und aufgeklärter werden; aber durch unsre Gewohnheiten beschränkt, werden sie sich unseren Ansichten mehr oder weniger anschließen. Vor dieser Aenderung sind sie das, was ich in uns die Natur nenne.
    Auf diese ursprünglichen Neigungen müßte man also Alles zurückführen; und das würde möglich sein, wenn unsere drei Erziehungsarten nur verschieden wären: was aber soll man thun, wenn sie widerstreitend sind, wenn man, anstatt einen Menschen für sich selbst zu erziehen, ihn für die andren erziehen will? Dann ist die Uebereinstimmung unmöglich. Gezwungen, die Natur oder die socialen Einrichtungen zu bekämpfen, hat man sich zu entscheiden,ob man einen Menschen oder einen Bürger bilden will; denn beides kann man nicht zugleich thun.
    Jede nur einen Theil umfassende Gesellschaft sondert sich, wenn sie strenge und fest geeinet ist, von der großen ab. Jeder Patriot ist gegen die Fremden abstoßend: in seinen Augen sind sie nur Menschen, sind sie nichts. [6]
    Dieser Uebelstand ist unvermeidlich, ist aber ohne Bedeutung. Die Hauptsache ist, den Leuten, mit welchen man zusammen lebt, eine freundliche Gesinnung zu beweisen. Dem Auslande gegenüber war der Spartaner ehrgeizig, habgierig, ungerecht; aber Uneigennützigkeit, Billigkeit, Eintracht herrschten innerhalb seiner Mauern. Nehmt euch vor diesen Kosmopoliten in Acht, die in ihren Schriften aus weiter Ferne Pflichten herholen, deren Erfüllung sie in Bezug auf ihre eigne Umgebung verächtlich zurückweisen. Ein solcher Philosoph liebt die Tartaren, um dessen überhoben zu sein, seine Nachbarn zu lieben.
    Der natürliche Mensch ist ein Ganzes für sich; er ist die numerische Einheit, das absolute Ganze, das nur zu sich selbst oder zu seines Gleichen in Beziehung steht. Der bürgerliche Mensch ist nur eine gebrochene Einheit, welche es mit ihrem Nenner hält, und deren Werth in ihrer Beziehung zu dem Ganzen liegt, welches den socialen Körper bildet. Die guten socialen Einrichtungen vermögen den Menschen am ehesten seiner Natur zu entkleiden, ihm seine absolute Existenz zu rauben, um ihm dafür eine relative zu geben, und das Ich in die allgemeine Einheit zu versetzen, so daß sich jeder Einzelne nicht mehr für eine Einheit, sondern für einen Theil der Einheit hält und nur noch in dem Ganzen wahrnehmbar ist. Ein römischer Bürger war nicht Cajus, nicht Lucius, er war ein Römer; sogar das Vaterland liebte er mit Ausschluß seiner eigenen Persönlichkeit. Regulus gab sich für einen Karthager aus, als ob er das Eigenthum seiner Besieger geworden

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