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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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und seine Gesundheit untergraben. In den Gegenden, wo dergleichen überspannte Vorsichtsmaßregeln nicht zur Anwendung kommen, sind die Menschen sämmtlich groß, starkund wohlgebildet. [14] Die Länder, in denen man die Kinder einzuwickeln pflegt, wimmeln förmlich von Bucklichen, Hinkenden, Krummbeinigen, Skrophulösen, Verkrüppelten, kurzum von Mißgestalten jeglicher Art. Aus Furcht, die Körper durch freie Bewegung Verkrüppelungen auszusetzen, beeilt man sich, dieselben Verkrüppelungen durch Einschnürung und Zusammenpressung hervorzurufen. Lieber möchte man die Kinder gleich lähmen, um sie nur ja abzuhalten, selbst die Schuld an ihrer Verkrüppelung zu tragen.
    Läßt sich nicht annehmen, daß ein so grausamer Zwang einen bedeutenden Einfluß auf ihr Gemüth, wie auf ihr Temperament ausüben muß? Ihre erste Empfindung ist eine schmerzliche und peinliche; selbst an den nöthigsten Bewegungen finden sie sich behindert; unglücklicher als ein in Fesseln liegender Verbrecher, machen sie vergebliche Anstrengungen, werden allmählich böse und schreien. Mit Thränen, sagt ihr, erblicken sie das Licht der Welt. Ich glaube es wol; von ihrer Geburt an tretet ihr der natürlichen Entwicklung derselben entgegen; Fesseln sind die ersten Gaben, die ihr in ihre Wiege legt; nur Qualen bereitet ihr ihnen mit der Sorge, die ihr für sie tragt. Sollten sie, da ihnen nur der freie Gebrauch ihrer Stimme übrig geblieben ist, sich derselben nicht bedienen, um ihre Klagen auszudrücken? Ihr klägliches Geschrei verkündet euch das Leid, das ihr ihnen zufügt. Wäret ihr in ähnlicher Weise geknebelt, dann würdet ihr fürwahr ein noch weit lauteres Geschrei erschallen lassen.
    Woher stammt diese unvernünftige Sitte? Von einer unnatürlichen Mode. Seitdem die Mütter, ihrer ersten Pflicht uneingedenk, ihre Kinder nicht mehr selbst stillen wollten, mußte man sie Miethlingen, bezahlten Frauenzimmern überlassen, in denen selbstverständlich die Stimme der Natur den fremden Kindern gegenüber, zu deren Müttern man sie auf solche Weise bestellt, schwieg, und die daher nur darauf ausgingen, sich so viel Mühe wie möglich zu ersparen. Ein seiner Freiheit überlassenes Kind würdeunaufhörliche Überwachung erheischen, ist es jedoch wohl eingebunden, so wirft man es in einen Winkel, ohne sich um sein Geschrei zu kümmern. Sind nur keine offenbaren Beweise für die Nachlässigkeit der Amme vorhanden, bricht sich nur der Säugling nicht Arme und Beine, was kommt dann im Uebrigen darauf an, ob er umkommt oder sich siech und elend durchs Leben schleppt? Zum Unheil seines ganzen Körpers schützt man seine Gliedmaßen, und was auch immer geschehen mag, die Amme steht völlig schuldlos da.
    Wissen jedoch diese liebenswürdigen Mütter, welche sich, der Last der Kindererziehung überhoben, fröhlich den Vergnügungen des Stadtlebens hingeben, wissen sie wol, welcher Behandlung das Kind in seinem Steckkissen auf dem Lande ausgesetzt ist? Bei der geringsten Abhaltung hängt die Amme es wie einen Bündel Flicken an einen Nagel, und so lange dieselbe, ohne sich zu überstürzen, ihr Geschäft besorgt, so lange muß das unglückliche Wesen in dieser qualvollen Lage ausharren. Alle, die man in diesem Zustande traf, hatten ein dunkelrothes Gesicht; da die stark zusammengepreßte Brust die nöthige Circulation des Blutes nicht zuließ, stieg es nach dem Kopfe. Wenn man das arme gemißhandelte Kind für sehr ruhig hielt, so lag das allein daran, daß es nicht mehr Kraft zu schreien hatte. Mir ist unbekannt, wie viel Stunden ein Kind, ohne zu sterben, in diesem Zustande zu bleiben vermag, aber ich bezweifle, daß es lange geschehen kann. Darin liegt, sollte ich meinen, einer der größten Vortheile des Einschnürens.
    Man behauptet, die ihrer Freiheit überlassenen Kinder könnten ihnen schädliche Lagen einnehmen und unwillkürlich Bewegungen machen, die die Kraft und schöne Form ihrer Glieder zu gefährden im Stande wären. Das sind nichts wie hohle Redensarten unserer heutigen Afterweisheit, welche noch nie in der Erfahrung ihre Bestätigung gefunden haben. Unter jener Menge von Kindern, welche bei Völkern, die sich rühmen können verständiger als wir zu handeln, in dem freien Gebrauche ihrer Glieder aufgezogen werden, sieht man kein einziges, welches sich Schaden thäte oder durch eigene Schuld verkrüppelte; bei ihrerzarten Jugend fehlt es ihren Bewegungen noch an jener Kraft, die sie allein gefährlich machen könnte, und nehmen sie auch

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