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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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allgemeinen Umsturz herbeiführt, kann man wol, frage ich, eine thörichtere Methode ersinnen als die, ein Kind so zu erziehen, als ob es einst nie aus der Thüre zu kommen brauchte, als ob es unaufhörlich von den Seinigen umgeben sein würde? Wenn der Unglückliche sich nur einen Schritt über den Boden erhebt, wenn er eine einzige Stufe hinabsteigt, ist er verloren. Dadurch lehrt man ihn nicht den Schmerz ertragen, sondern übt ihn vielmehr denselben zu empfinden.
    Man denkt nur an die Erhaltung seines Kindes; das ist nicht genug; man muß es auch lehren sich erhalten, wenn es ein Mann geworden ist; die Schicksalsfrage ertragen, sich über Ueberfluß und Mangel hinwegsetzen und im Nothfalle auf Islands Eisfeldern oder auf dem brennenden Felsen Maltas leben. Vergebens wendet ihrVorsichtsmaßregeln an, um es gegen den Tod zu schützen, es wird doch einmal sterben müssen; und wenn sein Tod auch nicht das Werk eurer Pflege und Verzärtelung sein sollte, so würden sie gleichwol schlecht angewandt sein. [12]
    Es kommt nicht sowol darauf an, es gegen den Tod zu schützen, als vielmehr darauf, ihm die Kunst zu leben beizubringen. Leben heißt nicht athmen, sondern handeln, es heißt sich unsrer Organe, unsrer Sinne, unsrer Fähigkeiten, kurz sich aller derjenigen Theile von uns zu bedienen, die uns die Empfindung unseres Daseins verleihen. Nicht der Mensch hat am meisten gelebt, welcher die höchsten Jahre zählt, sondern derjenige, welcher sein Leben am meisten empfunden hat. Mancher stieg erst im Alter von hundert Jahren in die Grube, der seit seiner Geburt wie todt war. Besser wäre es für ihn gewesen, er wäre in früher Jugend gestorben und hätte wenigstens bis zum Eintritt seines Todes gelebt.

    Unsre ganze Weisheit besteht darin, daß wir uns von sclavischen Vorurtheilen leiten lassen; alle unsere Gewohnheiten legen uns nur Zwang, Beschränkung und Fesseln auf. Jeder Bürgerliche wird in der Knechtschaft geboren, lebt und stirbt darin: bei seiner Geburt schnürt man ihn in ein Wickelband; bei seinem Tode sperrt man ihn in einen Sarg; so lange er die menschliche Gestalt bewahrt, ist und bleibt er durch unsere Einrichtungen gefesselt. Man erzählt sich, daß sich manche Hebammen nicht scheuen, dem Kopfe der neugeborenen Kinder durch Zusammenpressen eine angemessenere Form zu geben: und man gestattet es! Unsere Köpfe sollten so, wie sie aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen sind, nichts taugen! Man müßte sie äußerlich erst durch die Hebammen und innerlich durch die Philosophen modeln! Die Caraiben sind um die Hälfte glücklicher als wir.
    »Kaum hat das Kind den Schooß der Mutter verlassenund kaum genießt es die Freiheit seine Glieder zu bewegen und zu dehnen, so fesselt man es von Neuem. Man wickelt es in Windeln, man legt es mit unbeweglichem Kopfe und ausgestreckten Beinen hin, während die Aermchen an den Körper angedrückt sind; es wird in Linnen eingehüllt und in alle mögliche Wickelbänder eingeschnürt, daß es seine Lage nicht verändern kann. Noch glücklich, wenn man es nicht bis zu dem Grade zusammengeschnürt hat, daß es dadurch am Athemholen behindert ist, und wenn man die Vorsicht beobachtet hat, es auf die Seite zu legen, damit das aus dem Munde fließende Wasser von selbst hinabfließen kann, denn es würde nicht die freie Bewegung haben, den Kopf auf die Seite zu wenden, um das Ausfließen zu erleichtern.« [13]
    Das neugeborene Kind hat das Bedürfniß seine Glieder auszustrecken und zu bewegen, um sie aus der Erstarrung zu reißen, in der sie sich, in einen Knäuel zusammengezogen, so lange befunden haben. Man streckt sie aus, das ist wahr, aber man verhindert sie, sich zu bewegen; sogar den Kopf steckt man in Kinderhäubchen: man scheint zu befürchten, daß es Lebenszeichen verrathen könne.
    Auf diese Weise findet der Trieb der inneren Theile eines Körpers, welcher im Wachsthum begriffen ist, an den Bewegungen, welche er von demselben verlangt, ein unübersteigliches Hinderniß. Das Kind macht fortwährend vergebliche Anstrengungen, welche seine Kräfte erschöpfen oder ihre Zunahme aufhalten. Im Mutterschooße war es weniger beengt, eingeschränkt, zusammengepreßt als in seinen Windeln. Ich sehe den Vortheil nicht ein, den es durch seine Geburt gewonnen hat.
    Die Unthätigkeit und der Zwang, worin man die Glieder eines Kindes erhält, haben den einzigen Erfolg, daß sie den Kreislauf des Blutes und der Säfte stören, die Kräftigung und das Wachsthum des Kindes hemmen

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