Emil oder Ueber die Erziehung
einziges zusammenziehen ließe, so würde man durch Beseitigung der Widersprüche in dem Menschen ein großes Hinderniß zu seinem Glücke aus dem Wege räumen. Man müßte, um darüber zu urtheilen, ihn ganz ausgebildet sehen; man müßte seine Neigungen beobachtet, seine Fortschritte gesehen, seinen Lebensgang verfolgt haben; mit einem Worte: man müßte den natürlichen Menschen kennen. Ich glaube, daß man nach Lectüre dieser Schrift einen guten Anfang zu diesen Forschungen gemacht haben wird.
Was haben wir nun zu thun, um diesen ausgezeichneten Menschen zu bilden? Unzweifelhaft viel: nämlich zu verhüten, daß etwas geschieht. Wenn es sich nur darum handelt, gegen den Wind zu segeln, so lavirt man; ist aber das Meer bewegt und man will auf der Stelle bleiben, so muß man den Anker auswerfen. Nimm dich wol in Acht, junger Pilot, daß dein Ankertau nicht nachlasse und dein Anker nicht schleppe und das Schifflein nicht forttreibt, ehe du dich dessen versiehst.
In der gesellschaftlichen Ordnung, wo alle Stellen genau bestimmt sind, muß Jeder für die seinige erzogen werden. Wenn ein für seine Stelle gebildetes Individuum dieselbe aufgibt, taugt es zu nichts mehr. Die Erziehung ist nur in so weit von Vortheil, als das Vermögen der Eltern mit dem Berufe in Übereinstimmung steht, zu welchem sie ihr Kind bestimmen; in jedem anderen Falle istsie dem Zögling nur schädlich, und wäre es auch nur durch die vorgefaßten Meinungen, welche sie ihm eingeflößt hat. In Aegypten, wo der Sohn genöthigt war, sich dem Stande seines Vaters zu widmen, hatte die Erziehung wenigstens ein sicheres Ziel; unter uns jedoch, wo nur die Rangstufen bleiben und die Menschen unaufhörlich wechseln, weiß Niemand, ob er nicht, wenn er seinen Sohn für die seinige erzieht, demselben schadet.
In der natürlichen Ordnung, in der die Menschen alle gleich sind, ist ihr gemeinsamer Beruf, zuerst und vor Allem Mensch zu sein und wer für diesen gut erzogen ist, kann diejenigen, welche mit demselben in Einklang stehen, nicht schlecht erfüllen. Ob man meinen Zögling für die militairische, kirchliche oder richterliche Laufbahn bestimmt, darauf kommt wenig an. Bevor die Eltern ihn für einen Beruf bestimmen, beruft die Natur ihn zum menschlichen Leben. Die Kunst zu leben soll er von mir lernen. [10] Wenn er aus meinen Händen hervorgeht, wird er freilich, das gebe ich zu, weder Richter, noch Soldat, noch Priester sein, er wird zuerst Mensch sein. Alles, was ein Mensch sein muß, das Alles wird er, wenn es darauf ankommt, eben so gut wie irgend Jemand sein können, und das Schicksal wird ihn vergeblich seinen Platz wechseln lassen, er wird immer an dem seinigen sein. Occupavi te, fortuna, atque cepi; omnesque aditus tuos interclusi, ut ad me aspirare non posses. [11]
Unser wahres Studium ist das der menschlichen Natur. Wer unter uns die Freuden und Leiden dieses Lebens am besten zu ertragen versteht, der ist meines Erachtens am besten erzogen, woraus folgt, daß die wahre Erziehung weniger in Lehren als in Uebungen besteht. Wir beginnen unsere Bildung mit dem Beginn unseres Lebens. Unsere Erziehung beginnt zugleich mit uns; unser erster Lehrer ist unsere Amme. Auch hatte das Wort »Erziehung« bei den Alten einen anderen Sinn, als den wir damitverbinden. Es bedeutete die Aufziehung. Educit obstetrix , sagt Varronius; educat nutrix, instituit paedagogus, docet magister. Daher sind die Aufziehung, die Erziehung, der Unterricht drei in ihrem Ziele eben so verschiedene Dinge, wie die Wärterin, der Erzieher und der Lehrer. Aber diese Unterscheidungen gereichen zu keinem Vortheile und um gut erzogen zu werden, darf das Kind nur einem einzigen Führer folgen.
Wir müssen unsere Gesichtspunkte deshalb verallgemeinern und in unserm Zögling lediglich den Menschen an sich, den allen Wechselfällen des menschlichen Lebens ausgesetzten Menschen betrachten. Wenn die Menschen durch die Geburt an den Boden eines Landes gefesselt wären, wenn die nämliche Jahreszeit das ganze Jahr hindurch dauerte, wenn Jeder im unveränderlichen Besitze seines Vermögens bliebe, so würde die eingeführte Methode in gewisser Hinsicht gut sein; das für seinen besonderen Stand erzogene Kind würde, da es denselben niemals aufgäbe, auch nie den Schwierigkeiten eines andern ausgesetzt sein. Aber kann man wol, in Anbetracht der Wandelbarkeit der menschlichen Dinge, in Anbetracht des unruhigen und nivellirenden Geistes dieses Jahrhunderts, welcher in jeder Generation einen
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