Emil
der Windschutzscheibe bewältigen. Zu schwach, zu langsam kämpft er gegen den Strom an, der die Scheibe immer aufs Neue dick bedeckt. Hinten sitzen eng aneinandergedrängt die Reisenden wie eine Trupp Soldaten, der schweigend hin und her schwankt. Dicke Jacken, um den Hals einen Schal geschlungen, eine Wollmütze. Kälte. [ ]s Brille ist vom Regen beschlagen. Schon lange hat er es aufgegeben, sie mit dem Jackenärmel abzuwischen. Eng auf dem Kopf die Mütze, eine Art Barett, an dessen Rändern sich das Regenwasser wie in einer Dachrinne fängt und über Ohren, Wangen, die weißen Bartstoppeln und entlang der beiden Furchen neben seiner Nase fließt. Trifft auf [ ]s leicht geöffneten Mund und ihren schweren Atem. Um den Regen abzuhalten, hält sie die Augen mit den Händen bedeckt. Ein kurzer Blick nur, schon sind die Augen wieder nass. Dennoch schirmt sie sie ab, wie vor sengender Sonne. Doch ringsum ist alles grau. Keine Sonne. Kein Schatten. Nur Schlamm, das Geräusch des Motors und der Federung über den Schlaglöchern. Wenn der Wagen über ein Loch fährt, werden alle gleichzeitig durchgeschüttelt. Kalte Tropfen beißen sich in Joels Scheitel. Den Rücken dem Regen zugewandt, in eine völlig durchnässte Decke gehüllt, streckt er von Zeit zu Zeit die Zunge hinaus, um die Tropfen zu schmecken. Das dünne Haar klebt an der Stirn, sinnlos, es zurechtstreichen zu wollen. Jedes Mal, wenn das Rad, über dem er sitzt, in ein Schlagloch oder über ein Stück Holz fährt, durchschneidet ein heftiger Schmerz seinen Körper, als löse sich plötzlich in ihm etwas auf, als würde ihm mit einem Ruck ein Pflaster vom Herzen gerissen. An seine Seite gelehnt, schwankt Lea im Halbschlaf hin und her, ihr Kopf ist vornüber geneigt, ihr Nacken geduckt, sodass der Rücken, dem Regen ausgesetzt, das Gesicht schützt. Hinter beiden Ohren, durch den Spalt zwischen Kragen und Haut, fließen Rinnsale über ihren Rücken. Sie versucht, den Spalt mit ihrem Schal zu verhüllen, doch er öffnet sich immer wieder in dem stürmischen Wind, gegen den die niedrige Fahrerkabine sie kaum abzuschirmen vermag. Blitze leuchten über die grauen Felder, und Emil, den Kopf mit einem kleinen Stück Pappkarton bedeckt, hält beide Hände über die Ohren, lässt sie dann wieder sinken, um sie tief in den Taschen seiner alten Jacke zu vergraben, sein Rücken ist nass, er zittert, ist krank, in seinen Schuhen steht Wasser, nur die Taschen und die darin verborgenen Hände sind trocken. Der Regen geht schräg nieder, in Strömen peitscht er auf sie ein, hämmert auf den Weg, spritzt an den Reifen ab, schlägt ans Fenster, trifft auf [ ]s Nase, in die er mit jedem Atemzug eindringt, trieft auf seine leicht geöffneten, in einem fort vor sich hin murmelnden Lippen. Auch wenn er laut schriee, käme seine Stimme nicht an gegen das Pfeifen des Windes, das Geräusch des Motors, das Prasseln des Sturzregens auf das Dach der Fahrerkabine. Immer stärker wird die Regenflut und wird noch gewaltiger werden. Wird nie, niemals aufhören. Hüpfende Tropfen, Hagelkörner spitz wie Steine. Er geht nieder mitten ins Ohr von [ ], auf Joels Schläfen, prallt auf Emils Knie, löst allmählich seinen Pappkarton auf. Doch sie werden nicht ablassen. Nicht ablassen von dem Karton. Obgleich er auf die nasse Erde vor ihnen schlägt und den Feldweg vor ihnen in ein Bächlein voll Schlamm verwandelt. Hin und hergeschüttelt in diesem Winterorkan, diesem Nebelsturm, fahren sie immer weiter. Jedes Loch, das im Weg klafft, jeder Stein im Reifen, jedes auf die Straße geworfenes Holzstück, jeder explodierende Donner, jeder ferne Blitz, die Kälte.
Joel
Als er seinen Pass suchte, fand er die Zeichnung zusammen mit anderen Zeichnungen und Zetteln Emils. Er hatte sie in einem Umschlag aufbewahrt, auf dem mit verblassten Bleistiftzügen die Worte
Vom Kind
standen. Emil hatte die Zeichnung vor sehr vielen Jahren angefertigt, als er etwa drei Jahre alt war. Wer ist das? Ich? Vielleicht hatte er Lea gezeichnet? Plötzlich wusste er es nicht genau. Mit Sicherheit konnte er sich jedoch daran erinnern, wie Emil ein Blatt aus einem Heft herausgerissen und in einem Schwung das Gesicht gezeichnet hatte. Wer ist das, dachte er erschrocken. Wer ist das, ist sie das? Oder ich? Wer ist das, wer ist das?
Joel trommelte mit der Hand auf den Tisch, als ob sein Schicksal von der Antwort auf diese Frage abhinge. Starrte in starrende Augen. Prüfte erneut das Datum des Flugtickets. 07.07.07. Das Datum
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