Emil
wie sie geheißen hatte und wie sie gestorben war, und auch das Kind Emil, das plötzlich auseinanderbrach in alle Kinder, die es gewesen war, jedes Jahr ein anderes Kind, jedes Jahr, jeden Tag, jede Sekunde ein weggegebenes Kind, nicht
ein
Kind, das sie verlassen hatte, sondern Millionen Kinder. Alle.
Sie sah sie alle, ja alle fünf, wie sie mit ausgestreckten Händen den Weg ertasteten, einander suchend, doch nicht findend. Einander rufend, so nah, dass sie sich fast berühren konnten.
Der Weg unter ihren Füßen fiel leicht ab. Als ein weißer Schmetterling durch die Dornen flog, entdeckte sie die von einem niedrigen Zaun mit verblichenen Totenköpfen umgebene Giftpflanze. Wie eine Seerose reckte sie sich in die Höhe. Die Pflanze sah sie an, wie sie alle Betrachter ansah. Richtete sich dann ein wenig auf. [ ] ging noch ein Stück an sie heran.
An einer niedrigen Mauer waren, im Sonnenlicht glitzernd, die Tafeln mit den Namen der Spender angebracht. Während Emils Mutter die Namen überflog, begann ihr die Sache mit dem Akku, den sie mir nichts dir nichts ins Dornengestrüpp geworfen hatte, leid zu tun, wieder einmal würde sie sich einen neuen anschaffen müssen. In einer Ecke des Platzes war ein Schild. Sie ging näher, um die Aufschrift lesen zu können.
Noah Naftoloski-Park – ein Mann der Pflanzen und der Blumen
. Die Worte schienen ihr plötzlich schrecklich wie eine ganz schlechte Nachricht, sie sagte sich, o nein, o nein, ein Mann der Pflanzen und der Blumen, Pflanzen und Blumen, Pflanzen und Blumen. Dann sprach sie plötzlich laut und klar: Emil Svissa, das Kind der Pflanzen und Blumen. Und vermeinte, statt Noah Naftoloski den Namen Emil Svissa auf dem Schild eingraviert zu sehen, und auch auf den Spendertafeln sah sie immer wieder seinen Namen. Der Blindengarten wurde von Emil Svissa zur Erinnerung an seine Eltern Malka und Elijahu Svissa gespendet. Zur Erinnerung an seine Eltern Malka und Elijahu Svissa. Zur Erinnerung an seine Eltern. Zur Erinnerung an seine Eltern. Und sie sagte zu dem Schild die Worte, die so viele Jahre in ihr verschüttet gewesen waren: Nicht ich wollte dich verlassen. Er war es. Er. Er war es, sagte sie zu sich, wie damals, als sie plötzlich umkehren wollte zu ihm und er sie mit Gewalt ergriff, nein, würgte, sie hinauszog, hinausschleifte, brave Leute sahen ihnen, dem Jungen und dem Mädchen, ratlos zu, ohne einzugreifen. Sie hatte zu schreien aufgehört, war ganz still, denn er hatte sich über sie geworfen, hatte sie hinausgezerrt, sie fast umgebracht. Sie biss ihn, und er nahm es lautlos hin, bis er schließlich hinter der Kammer voller Spitalswäsche ein Versteck fand und zu ihr sagte, Malka, wenn du noch mal so schreist, bring ich dich um. Ich erwürg dich hier in der Wäschekammer. Was zum Teufel fällt dir ein. Sie nickte schweigend, unter Tränen, wortlos. Dann versuchte sie, ihm die Nägel ins Gesicht zu graben. Er erschrak und schlug ihren Kopf gegen die Wand der Kammer. Wartete, bis sie wieder zu sich kam. Als sie nach einigen Minuten aufwachte, sagte er ihr, ist schon gut, es ist vorbei, er ist weg, man kümmert sich schon um ihn, ist schon gut. Er habe gesehen, wie man ihn in einem großen Auto wegbrachte. Als es Abend wurde, fuhren sie mit dem Bus fort. Saßen weit voneinander entfernt. Sie hatte sich hinter den Fahrer gesetzt, er in die hinterste Sitzreihe. Sie sah, wie er tief drinnen im Spiegel immer kleiner wurde. Sie wollte ihn nicht wiedersehen. Nie wieder. Aber dann blieben sie doch zusammen.
[ ]
Eines Tages, nach Jahren, kam ein Verwandter von ihm zu Besuch. Er hatte kurz vorher angerufen und gesagt, er sei schon auf dem Weg. Sei gerade erst gelandet. Mit Koffer und Schirm. Und sie sagte ihrem Mann: Dein Verwandter kommt. Den Namen wusste sie nicht mehr. Und er blickte sie an. Mein Verwandter? Und sie sagte ihm: Ja. Da stürzte er zu Boden und verlor auf der Stelle das Bewusstsein.
Die Stadt
Ein alter offener Lieferwagen. Auf einem schlammigen Weg. Auf weitem Feld. Seit gestern Nacht regnet es unaufhörlich. Das Geräusch des Wischers, der über die Windschutzscheibe fährt. Die Sicht ist fast Null. Das Geräusch des Regens. Die Tropfen, die aus der Luft schießen und aufprallen. Große, dicke Tropfen. Alle sitzen in der offenen Kabine. Schwere Wolken, dicht geballt, wie wasserdurchtränkte Felsen. Alle fünf. Der Regensturm peitscht, hämmert, sticht auf sie ein. Der Lieferwagen poltert über den unebenen Weg. Der Wischer kann kaum das Wasser auf
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