Emil
Verlangen, sich zu stechen. In die Steckdose zu greifen. Das heiße Bügeleisen anzufassen, um laut aufschreien zu können.
Niemand war in der Nähe. Im Gartenhäuschen hielten die Gärtner bereits ihr Nachmittagsschläfchen, schnarchten unter jahrzehntealten Wandkalendern mit nackten, inzwischen verblühten Mädchen. Die Stadt war mit einem Mal verschwunden, als hätte sie die Atmosphäre verlassen und als wäre alles plötzlich still und leer. Da war bloß das Gezwitscher von Vögeln, die sie bislang nur aus Büchern kannte, und das leise Murmeln von in der Sonne badenden Kakteen, die in Beeten gepflanzt waren und näher rückten, als wollten sie ihr etwas mitteilen oder sie stechen und beißen. Auf kleinen Schildern standen, gleich fürstlichen Wappen, botanische Pflanzennamen, die sie noch nie gehört hatte,
Kalanchoe arborescens Humbert, Kalanchoe millotii, Kalanchoe blossfeldiana
. Hinter dem Kakteenbeet fuhr ein roter Eisenbahnzug vorbei, es war ihr nicht bewusst gewesen, dass die Bahnlinie so nah lag.
Wenn ich nur stundenlang hier liegen bleiben könnte, dachte sie, verschwinden, immer wieder in dieses Schattenbad eintauchen. Ich sitze in der Falle, dachte sie. Sie versuchte, sich an jenen Moment zu erinnern, als sie damals in Eilat miteinander geschlafen und das Kind, das sie Emil nannten, gezeugt hatten. Es bestand kein Zweifel, wann es geschehen war. Auf irgendeinen zerknitterten Zettel hatte sie das Datum gekritzelt. Doch sie hatte keinerlei Erinnerung, weder an den Tag, noch an die Stunde, noch an den Ort, noch an die Lust. Es hatte keine Lust gegeben. Nur Schmerz und Panik, die sofort von ihr Besitz nahmen. Und aus ihnen wurdest du geboren.
Sie betrat das Gewächshaus. Dachte bei sich, hier kann ich mich verstecken. Um drei Uhr wird geschlossen, ich verstecke mich schon um halb drei, hier ist ja kaum jemand, und niemand wird auf die Idee kommen, dass jemand hier zurückbleiben würde. Die Gärtner werden abschließen und nach Hause gehen, und ich werde die ganze Nacht hier bleiben. Wenn ich Hunger bekomme, kann ich im Obsthain Früchte pflücken, wenn ich durstig bin, trinke ich aus dem Wassersprenkler. Und wenn mir kalt wird, bleibe ich im Gewächshaus. Eine Nacht nur. Wie sie es schon einige Male getan hatte. Im Allgemeinen fiel es niemandem auf. Bloß einmal, in Haifa, hatte sie jemand zwischen den Beeten liegen sehen und die Polizei gerufen. Sie riss das Handy aus der Tasche und schaltete es aus, dann zog sie mit einem Ruck den Akku heraus und warf ihn in das Gestrüpp hinter sich. Sofort bereute sie es. Doch die Stacheln stellten sich ihr entgegen und gaben den Akku nicht wieder her. Sie hatte nur das eine Bedürfnis, außerhalb der Stadt zu sein, und der Garten war dieser Platz. Ein Platz, an den dieser Joel Sissu nicht kommen konnte wie vorhin, um zu bitten und zu flehen und Schuldgefühle einzuträufeln. Sie mit seinen Fingern berühren. Ihr kleine Zeichnungen in die Hand zu drücken. In ihrer Wohnung die Wände anzuschreien.
Schon stellte sie sich vor, wie das Klingeln des Telefons versuchen würde, sie einzuholen, zu ihr durchzudringen. Er ist imstande, deine Nummer herauszufinden und anzurufen. Doch sie hatte ohnehin abgeschaltet.
Mimosa pudica
, las sie laut. Ein Kind ist in dir gewachsen, und da bist du jetzt, achtunddreißig Jahre später. Alle leben noch. Nahe, sehr nahe, fast zum Berühren nahe, durch eine Stoffwand getrennt, deren Nähte sie sehen konnte. Und sie sah ihn, Emil, im Fenster des vorbeifahrenden Zuges, zitternd festgefroren, als hätte jemand die Pausentaste gedrückt. Er blickte sie an. Kein Zug fuhr vorbei. Sie waren alle noch weit im Norden, in der Nähe von Akko. In diese Welt hier würden sie nicht gelangen.
Das Krankenhaus. Der neugeborene Emil. Zwei oder drei Stunden waren sie zusammen. Ein einziges Mal versuchte er, an ihrer Brust zu saugen. Die ganzen Jahre lang hatte sie das vergessen. Jetzt erinnerte sie sich plötzlich daran. An seinen Mund. Seine Fingernägel.
Sie folgte dem Fußweg bis zu einem offenen Areal, vorbei am Blindengarten. In ihrer Vorstellung stieg das Bild von tastenden Händen auf, von weißen Stöcken zwischen Blumen und fleischigen Blättern, von Blindenhunden, die in der milden Sonne dösten in diesem Garten innerhalb des Gartens. Sie schloss die Augen. Alle waren sie da. Sie und ihr Mann, der sich von Tag zu Tag mehr verschloss, seine Saiten waren zur Hälfte gerissen, und Joel Sissu und die Leiche seiner Frau, von der sie nicht wusste,
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