Emotionen. Gefühle literarisch wirkungsvoll einsetzen
mit Nationalstolz und militärischen Traditionen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Manche literarischen Erzeugnisse, die in den dreißiger und vierziger Jahren die Zensur passierten, erscheinen uns heute unerträglich. Zu deutlich treten Hetze und Manipulation hervor. An Gefühle wird plump appelliert und sie werden an zweifelhafte Werte geknüpft.
Auch im Sozialistischen Realismus wurden Gefühle diktiert. Sie sollten mit der Arbeiterideologie und dem sozialistischen Staat unmittelbar verbunden werden.
Manches spricht dafür, dass die Gefühle selbst sich nicht so stark gewandelt haben wie ihre Bewertung und ihre Deutung. Es entsteht ein Dreieck aus empfundenen Gefühlen, ihrer Erkenntnis und ihrer Bewertung. Die Bewertung aber hat einen großen Einfluss darauf, in welchem Licht Gefühle erscheinen und in welchem Zusammenhang sie wahrgenommen werden. Hier hat man beim literarischen Schreiben große Gestaltungsmöglichkeiten: Wie eine Geschichte ausgeht, welche Situation oder welches Verhalten in welchem Licht erscheint, welchen Stellenwert ein bestimmtes Motiv bekommt, darüber entscheidet der Autor – und der Leser.
Anregung
Zeitreisen
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein junger Mensch will sein Elternhaus verlassen und eigene Wege gehen. Aber die Eltern missbilligen seine Entscheidung und wollen ihn nicht ziehen lassen.
Schreiben Sie über diese Situation in verschiedenen Epochen: in der Steinzeit, im Mittelalter, im 19. Jahrhundert. Schreiben Sie kurze erzählerische Skizzen über die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern und dem Heranwachsenden. Welche Verhaltensweisen der Figuren lassen Sie über die Epochen hinweg »konstant« bleiben? Wo werden Unterschiede sichtbar?
Angemessener Gefühlsausdruck
Das »Zeitalter der Empfindsamkeit« im 18. Jahrhundert gilt als besonders gefühlsbetonte Epoche. Neben dem Theater gewann der Roman an Bedeutung. Im Roman wurden die Figuren und ihre Gefühle ausgiebig beschrieben, der Leser konnte mit ihnen leiden und sich mit ihnen identifizieren. Starke Emphase in der Äußerung bis hin zur Sentimentalität waren üblich. Der Begriff der »Sympathie« wurde geradewegs zu einem Modewort, und man hatte sich stets zu versichern, wie »sympathisch« man einander war. So klingt ein Absatz aus einem empfindsamen Roman:
»Der Baron drückte ihn an seine Brust; ›Ich weiß‹, sagte er, ›dass Sie in allem wahrhaft sind, ich zweifle also nicht an den Versicherungen Ihrer alten Freundschaft. Aber warum kommen Sie so selten zu mir? Warum eilen Sie so kalt wieder aus meinem Hause?‹ ›Kalt, mein Freund! Kalt eile ich aus Ihrem Hause? O! Wenn Sie das brennende Verlangen kennten, das mich zu Ihnen führt; das mich stundenlang an meinem Fenster hält, wo ich das geliebte Haus sehe, in welchem alle mein Wünschen, all mein Vergnügen wohnt!<«
«Der emphatische Ausruf »O!«, die Erwähnung von Kälte, die direkte Versicherung der Freundschaft und ausdrucksstarke Wendungen wie »brennendes Verlangen« zeigen, dass Gefühle betont wurden. Das heißt nicht, dass Gefühle früher tiefer und stärker waren als heute, man äußerte sie deutlich, manchmal überdeutlich.
Die Entwicklung des modernen Menschen ist durch das Streben nach Souveränität über die dunklen Mächte bestimmt, zu der auch die Kontrolle der Affekte gehört. Auf der anderen Seite ist gerade in den letzten Jahren eine Renaissance der Gefühle zu erkennen. Öffentliche Plattformen, wie Talkshows und Doku-Soaps, erzeugen allerdings eher Pseudogefühle. In den Nachrichten sieht man Politiker, die sich weinend in den Armen liegen. Je mehr Platz die Gefühle wieder bekommen, umso wichtiger ist es für Autoren, sie zu reflektieren, differenziert und bewusst mit ihnen umzugehen.
Verschiedene Wissenschaften befassen sich inzwischen mit Emotionen, zum Beispiel ist die Biochemie nicht nur an Funktionsweisen der Erkenntnis, sondern auch des Fühlens interessiert. An einer juristischen Fakultät wurde ein Emotionales Gesetzbuch , ein Dekalog der Gefühle (2005) entwickelt, der Gefühlsgruppen kategorisiert und untersucht, wie weit Emotionen und Werte Gesetze und Urteile implizit beeinflussen.
Die Gegenwartsliteratur steht vor einem besonderen Dilemma. Gefühle sind zwar wieder gefragt, doch traditionelle Erzählstrukturen sind nicht zeitgemäß. Will man aber intensive Gefühlsprozesse beschreiben, muss man sich eher geschlossener Erzählformen bedienen. Umgekehrt kann es geschehen, dass eine gebrochene Form
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