Empty Mile
hatte.
Doch je länger ich dort stand, desto deutlicher sah ich die Spuren von Stan. Seine Sachen traten aus dem Hintergrund fremder Möbel und einer dünnen Schicht von Rosies Habseligkeiten hervor wie bei einem Polaroidfoto, das sich langsam entwickelt – ein Comic-Heft auf dem Boden neben dem Bett, das er am Abend zuvor gelesen haben musste, Turnschuhe, die achtlos an einer Wand hingen, Skizzen von Superhelden, eine offene Cola-Dose und eine Tüte Kartoffelchips … Diese Schlaglichter aus seinem Alltag, diese kleinen, gewöhnlichen Hinweise darauf, dass er ganz er selbst gewesen war, berührten mich so sehr, dass ich mich am Türrahmen abstützen musste.
Neben der Tür befand sich ein Schrank. Ich öffnete ihn und strich mit der Hand über Stans Kleidungsstücke. Die Lederjacke, mein Geschenk für ihn, als ich Oakridge verließ, hing ganz vorn in der Reihe, daneben das hellblaue Bowlinghemd, das er am Tag meiner Rückkehr getragen hatte. Ich nahm das Hemd vom Kleiderbügel, setzte mich auf das Bett, vergrub das Gesicht darin, atmete den Geruch meines Bruders ein – Schweiß und das Parfum seiner Brylcreem – und versuchte, eine Welt heraufzubeschwören, in der es ihn noch gab. Aber das gelang mir natürlich nicht, und am Ende führte mir das Hemd nur vor Augen, dass er wirklich und wahrhaftig unwiederbringlich von mir gegangen war. Ich saß da und weinte in das Hemd hinein, bis ich mich vollkommen leer fühlte, als hätte ich nichts mehr in mir, kein Gefühl, keine Seele – nichts von dem, was das Innere eines Menschen ausmachen sollte.
Als ich das Hemd wieder in den Schrank hängte, sah ich Stans zwei verbliebene Superhelden-Kostüme und erinnerte mich, wie er zu mir sagte, dass ich sie einmal tragen sollte. Ich nahm sie aus dem Schrank und legte sie mir über den Arm. Ich blieb noch einen Moment in dem Schlafzimmer und versuchte, so viel wie möglich von ihm zu absorbieren, damit ich diese letzten, verblassenden Reste seines Lebens für immer mitnehmen konnte. Doch ich hatte eine Grenze überschritten, ich hielt es nicht mehr länger aus. Nur die Lederjacke nahm ich noch mit.
Ich ging zur Blockhütte zurück und setzte mich davor auf die Stufen. Es war kalt. Ich zog die Lederjacke an, machte den Reißverschluss zu, blies mit den Händen in den Taschen Atemwölkchen in die Luft und dachte darüber nach, wie ich Stans Glauben an das Leben zerstört hatte.
Für ihn war die Welt voller Hoffnung gewesen. Jeder Mensch hatte in ihr seinen Platz. Für Stan war sie ein magischer Ort. Ein Ort, wo man einen Baum umarmen und Energie tanken konnte, wo einem Falter irgendwie Kraft übertrugen. Sechs Monate in meiner Gegenwart hatten ihm auch den letzten Rest dieser Magie genommen.
Meine Schuldgefühle waren eine seelische Befindlichkeit und lagen über mir wie eine graue, tuberkulöse Wolke. Stan hatte sie an jedem Tag eingeatmet, den wir zusammen verbracht hatten. Er hatte begriffen, worum es sich handelte. Er hatte mir gesagt, dass ich mich nicht mehr schlecht fühlen und die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen sollte. Doch das änderte nichts mehr. Der Abscheu vor mir selbst begleitete mich bereits so lange, dass ich ihn nicht mehr abzuschütteln vermochte. Und Stan, der nie gelernt hatte, Widerstandskräfte gegen dieses Erwachsenenleiden zu entwickeln, hatte seinem brutalen Angriff nichts entgegenzusetzen und wusste nicht zu verhindern, dass sein optimistisches Bild des Lebens für immer davon verdorben wurde.
Er hatte mich verehrt. Ich war sein Vorbild, derjenige, der ihm zeigen sollte, wie man sein Leben führte. Und ich hatte ihm nichts als Reue und Hoffnungslosigkeit und eine trostlose Zukunft gezeigt, in der das Glück nicht existierte. Und das hatte ihn mehr als die Gemeinheiten von Jeremy Tripp oder Gareth zu dem Menschen gemacht, der zur Waffe greifen, sie auf einen anderen Menschen richten und abdrücken konnte.
Später, als es schon hell wurde, kam Marla mit Kaffee heraus und setzte sich neben mich. Ich legte den Kopf an ihre Schulter, sie strich mir über das Haar, und ich wollte für immer so bleiben, hier sitzen und spüren, wie ihre Finger Gedanken verscheuchten, und mich nie wieder mit irgendetwas beschäftigen oder über mich selbst nachdenken.
Gegen halb sieben stiegen wir in den Pick-up und fuhren zum Tunney Lake, um dabei zu sein, wenn die Taucher aus Sacramento nach den Leichen von Stan und Rosie suchten. Auf dem Weg hielten wir kurz vor Millicents Haus und klopften. Es dauerte lang,
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