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Ende (German Edition)

Ende (German Edition)

Titel: Ende (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Monteagudo
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Satz. Ginés hat sich aus dem Sattel gehoben und setzt jetzt sein volles Körpergewicht ein. Instinktiv erhöhen die drei Frauen ebenfalls die Trittfrequenz, um nicht abgehängt zu werden.
    «Okay», sagt Ginés lauter als gewöhnlich, als gäbe es einen Zusammenhang zwischen erhöhter Lautstärke und erhöhter Geschwindigkeit. «Du hast deiner Phantasie freien Lauf gelassen und uns mit deiner Theorie beeindruckt. Du hast uns zum Nachdenken gebracht. Und wozu das Ganze? Warum willst du, dass wir ausgerechnet jetzt anhalten? Warum?»
    «Weil ich als Nächste dran bin. Ich bin die Nächste!»
    «Hätte ich mir ja denken können!», ruft Ginés und lässt sich zurück auf den Sattel sinken. Gerade haben sie die Kuppe überquert. Die Landschaft, die sich vor ihnen auftut, gleicht in beunruhigendem Maße der, die sie gerade hinter sich gelassen haben. Die Straße führt mehrere hundert Meter lang leicht bergab und steigt dann wieder an. Alle hören gleichzeitig mit dem Treten auf, trotzdem nehmen die Räder Fahrt auf.
    «Wir wissen nicht, wer als Nächstes dran ist», wendet María ein. «Wir wissen nicht mal, ob es einen Nächsten geben wird.»
    «Doch, das wissen wir», widerspricht ihr Nieves. «Zumindest ich weiß es. Ich habe ihn nämlich beleidigt, mich über ihn lustig gemacht. Ich verstehe nur nicht, wieso Maribel vor mir an der Reihe war.»
    «Du?», fragt Amparo ungläubig. «Aber du warst doch immer nett zu ihm! Das hat er mir selber gesagt. Ich hatte jedenfalls nicht so viel Geduld wie du.»
    «Mag sein, aber eben nicht an jenem Abend», sagt Nieves.
    Alle warten gespannt auf eine Erklärung. «Es ist auf einer der letzten Partys passiert, die wir bei Rafa gefeiert haben.»
    Nieves verstummt, als müsse sie erst Kraft sammeln. María nutzt die Pause für eine ironische Bemerkung:
    «Ich halte es kaum aus vor Neugier: Das muss ja wirklich schrecklich gewesen sein.»
    «Er lag bäuchlings auf dem Boden», fährt Nieves fort, ohne auf María einzugehen, «auf dem Teppichboden, genauer gesagt.»
    «Wer?»
    «Er. Zusammen mit Maribel und Rafa, gleich neben dem Lautsprecher. Ob noch jemand anderer dabei war, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls waren Rafa und Maribel damals noch nicht zusammen. Ich habe Andrés beobachtet, er lag neben Maribel, fast an sie geschmiegt. Als sie aufgestanden sind, hatte er eine … Erektion.»
    «Der Prophet hatte einen Ständer!», ruft Amparo und schaut kurz zu Nieves.
    «Sei nicht so vulgär!»
    «Aber wart ihr denn nackt?», fragt María.
    «Nein, Gott bewahre!», antwortet Amparo. «Nieves, bist du dir wirklich sicher?»
    «Außer mir hat’s keiner gemerkt, weil es in dem Zimmer ziemlich dunkel war. Trotzdem war es nicht zu übersehen. Außerdem hat er versucht, es zu vertuschen.»
    «Willst du damit sagen, dass Maribel …», fragt Ginés.
    «Nein, sie doch nicht. Sie hat einfach nur mit Rafa geplaudert.»
    «Das ist alles?», fragt María.
    «Vielleicht hätte ich damals lieber den Mund halten sollen, aber ich war so sauer auf ihn wegen seiner Heuchelei. Immer dieses moralische Getue, immer vom hohen Ross herab.»
    «Aber, Amparo», schaltet sich Ginés wieder ein. «Du weißt doch, dass so was bei Männern nicht immer …»
    «Von wegen», fällt Amparo ihm ins Wort. «Bei Männern gilt: Geh immer davon aus, dann liegst du richtig.»
    «Aber was hast du damals zu ihm gesagt?», will María wissen.
    «Schschscht, seid mal still!», zischt Ginés. «Was ist das? Hört ihr das auch?»
    Alle verstummen schlagartig. Sie hören auf, in die Pedale zu treten, lassen die Fahrräder rollen, schauen sich mehrfach um, horchen in die Stille hinein. Zikaden sind keine zu hören in der verdorrten Landschaft, die Bäume sind dafür zu weit entfernt. Stattdessen summen kleinere Insekten, sirren die Zahnkränze. Aber da ist noch etwas, etwas, das anschwillt, je mehr sie sich der Senke nähern: ein Klagen, ein misstönendes Klagen, das sich aus unzähligen Stimmen zusammensetzt, ein unartikulierter, tiefer, vibrierender Schrei, wie von einem gigantischen Instrument aus Metall, aber menschlich, deutlich als Schmerzenslaut erkennbar.
    «Mein Gott! Was ist das?»
    «Wo kommt das her?»
    «Haltet bloß nicht an!»
    «Es wird immer lauter!»
    Tatsächlich schwillt das Brüllen immer mehr an, wird immer furchterregender. Noch rollen die Fahrräder, werden aber langsamer, weil die Senke fast erreicht ist. Die drei sind sich unsicher, ob sie anhalten und umdrehen oder das Weite suchen sollen. Das

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