Ende (German Edition)
Schlimmste ist, dass sie nicht genau ausmachen können, woher das Geräusch kommt, das inzwischen die Luft erfüllt.
Zu sehen ist nichts. Die Landschaft liegt offen vor ihnen, der Blick reicht bis zum Horizont. Nichts rührt sich, kein Indiz für das, was den Radfahrern Angst einjagt. Trotzdem wirkt das Geräusch ganz nah, die Quelle kann nicht weit entfernt sein.
Die Fahrräder rollen immer langsamer. Das Brüllen ist jetzt unerträglich, nicht weil es so laut ist, sondern weil es so metallisch klingt. Jetzt können sie es auch lokalisieren: Es kommt von links. Alle Augen wandern in diese Richtung. Doch da ist nichts: nur Felder, hie und da ein Baum, ein längliches Gebäude, ein Silo, wahrscheinlich für Getreide. Nur Ruhe, Reglosigkeit.
Die Fahrräder rollen aus. Instinktiv suchen die Füße den Boden. Die Herzen pochen heftig, die Münder sind offen, die Augen weit aufgerissen. Nieves steht kurz davor, in Ohnmacht zu fallen, selbst zu brüllen, das Geräusch zu übertönen.
«Der Bauernhof! Es kommt vom Bauernhof!», ruft María plötzlich. «Es sind die Tiere!»
«Welcher Bauernhof?»
«Es sind Kühe, es müssen Kühe sein. Bestimmt haben sie seit Tagen nichts zu fressen gekriegt!»
Plötzlich ergibt alles einen Sinn. Das längliche Gebäude sieht tatsächlich wie ein Bauernhof aus, das Brüllen könnte von dort kommen. Der Silo, der hinter dem Dach aufragt, enthält wahrscheinlich Futter. Aber der Motor, der es nach draußen befördert, funktioniert nicht mehr, und es ist niemand da, der das Futter auf die Krippen verteilen würde.
Das Brüllen der Tiere scheint noch lauter geworden zu sein. Die Radfahrer müssen dagegen anschreien, um sich zu verständigen.
«Vermutlich haben sie seit zwei Tagen nichts mehr gefressen!», sagt María.
«Und weil sie uns gehört haben, brüllen sie jetzt noch lauter», ergänzt Amparo.
«Wie das stinkt!»
«Die armen Tiere!», sagt Nieves. «Die denken garantiert, dass der Bauer endlich da ist!»
«Ich hätte nie gedacht, dass dieses Geräusch von Tieren stammt!», schreit Amparo. «Ich hatte eher den Eindruck …»
«Ich hab so was schon mal gehört», erklärt Nieves. «Nur nicht so laut. Merkwürdig, dass ich nicht gleich draufgekommen bin.»
«Weil du Angst hattest», sagt Amparo. «Wie wir alle. He, pass auf!»
Der Lenker von Nieves’ Fahrrad bohrt sich schmerzhaft in Amparos Hüfte. Nieves hat neben Amparo angehalten, auf der rechten Straßenseite. Weil aber gerade alle nach links zum Bauernhof schauen, ist sie die Letzte in der Reihe.
Amparo will mit Nieves schimpfen, weil sich ihr der Lenker immer schmerzhafter in die Seite bohrt, aber als sie sich umdreht, ist Nieves nicht mehr da, sondern nur noch ihr Fahrrad, das nur deshalb nicht umfällt, weil es an ihrer Hüfte lehnt. Amparo stößt einen Schrei aus. Ginés dreht sich um und begreift sofort, was passiert ist.
«Verdammt!», ruft er wütend. Auch María dreht sich um und sieht, wie Nieves’ Fahrrad umkippt. Amparo hat es von sich gestoßen.
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María – Ginés – Amparo
G inés, María und Amparo sitzen unter dem Dach einer Tankstelle, dort, wo sonst die Autos halten um zu tanken. Die Fahrräder haben sie an die Zapfsäulen gelehnt. Zwei sind neu und haben Satteltaschen, gepackt mit Wasserflaschen und einem Erste-Hilfe-Set. Hinter den drei Radfahrern befindet sich das Hauptgebäude mit der Kasse und einem kleinen Laden. Die riesige Schaufensterscheibe liegt zersplittert davor, im Rahmen stecken noch Glasreste.
Die Tankstelle war offenbar noch in Betrieb, als der Strom ausfiel, denn die elektrische Schiebetür war verschlossen. Dadurch sind die Lebensmittel unversehrt. Was Hunde und andere Tiere anrichten können, haben die drei Überlebenden im Lauf des Tages gesehen. Die Erinnerung daran ist noch so frisch, dass sie nur eingeschweißte Lebensmittel aus der weißen Kühlvitrine genommen haben, die kaum noch kühlt: industriell hergestellte Sandwiches in dreieckiger Plastikverpackung.
Die Sonne steht bereits tief, aber es ist immer noch heiß, selbst im Schatten. Das Licht ist klar und hell, hat nichts Gelbliches mehr. Jenseits des Schattenquadrats bietet sich dem Blick eine Szenerie aus Müllkörben und Leitplanken, ölbeflecktem Asphalt und Beeten mit verdörrtem Gras. Man muss weit in die Ferne schauen, bis zum Horizont, um das dunstige Graublau der Berge auszumachen.
María und Ginés haben mehrmals misstrauisch an den Sandwiches gerochen, bevor sie
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