Ende (German Edition)
Röhrendes. Da ertönt es wieder.
«Amparo?», fragt María, den Blick immer noch nach vorne gerichtet.
Ginés und María beginnen nach rechts zu schielen, trauen sich aber nicht, den Kopf zu drehen. Stille. Plötzlich weiche, schleichende Schritte, die sich entfernen, Sohlen, die über Gras schleifen.
«Amparo!»
Endlich drehen sie sich um.
Still blickt ein Tiger sie an. Weicht zurück, Schritt für Schritt, drückt den Bauch nach unten. Im Maul hat er Amparos Nacken, zerrt ihren leblosen Körper mit sich. Schuldbewusst sieht er Ginés und María an, wie ein Kind, das bei einem Streich ertappt wird. Vielleicht ist sein Blick aber auch kalt und berechnend, vielleicht schätzt er ein, wie gefährlich ihm diese beiden Wesen werden können, die dort stehen, neben ihren merkwürdigen Maschinen, vielleicht berechnet er die Entfernung, die sie von ihm trennen, fragt sich, ob sie ihm die Beute entreißen wollen.
Aber Ginés und María sind wie gelähmt. Nicht einmal geschrien haben sie. Sie atmen tief in die Kehle, schnappend, vor Überraschung, vor Angst. Starr stehen sie da, unfähig, Amparo zu Hilfe zu eilen, unfähig, die Flucht zu ergreifen, unfähig, den Blick vom Kopf des Tigers zu lösen, von Amparo, die wie eine Strohpuppe weggeschleift wird. Ihre Schenkel leuchten weiß, bilden einen starken Kontrast zu ihrem Schamhaar. Ihr Kopf ist unnatürlich verdreht, ihr Hals steckt im Maul des Tiers wie ein Tennisball, wie der Kopf einer Puppe, der jemand reglose, weit aufgerissene Augen aufgemalt hat.
Das Bild entfernt sich. Der Bewegungen des Tigers sind jetzt selbstsicherer, geschmeidiger. Er blickt sogar zurück, schwingt Amparos sechzig Kilo schweren Körper hin und her, als wöge er nichts. Als er bei den ersten Bäumen ankommt, dreht er sich mit aufreizender Lässigkeit noch einmal um, bevor er endgültig davonläuft, sich im grünen Unterholz verliert.
«Nichts wie weg», flüstert Ginés, der immer noch reglos dasteht, verstört. «Wir konnten nichts für sie tun. Lass uns von hier verschwinden. Womöglich sind da noch mehr Tiger.»
Ginés stellt einen Fuß aufs Pedal und fährt los. María ebenso, aber sie schaut sich um, nach links, nach rechts, nach hinten, immer wieder, bis sie endlich Fahrt aufgenommen hat. In ihren Augen, in ihrem ungläubigen Blick liegt pure Angst, Angst und der Drang, so schnell wie möglich wegzukommen.
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María – Ginés
M aría und Ginés liegen in einem Bett. Es ist breit, bequem, quadratisch, erlaubt einem Paar, unabhängig voneinander zu schlafen, ohne auf die drastische Lösung getrennter Betten zurückgreifen zu müssen. Am Fußende steht ein grauer Plasmabildschirm mit klarumrissenen Kanten. Das Zimmer ist groß und minimalistisch eingerichtet, typisch für Leute mit Geld. Die Decke wölbt sich zum Kopfende nach unten, was einen angenehmen Effekt erzeugt. Eine Tür gibt es nicht: Vom Fußende des Betts führt eine Treppe direkt in den unteren Stock. Die Teppiche, das Holz, die Decke, das große, nach Westen gehende Doppelglasfenster – alles dämpft die Geräusche, schafft eine Wohlfühlatmosphäre.
Ginés hat das Fenster geöffnet, um Luft und Licht hereinzulassen. Trotz aller Annehmlichkeiten ist es innen ohne Klimaanlage kaum auszuhalten. Bei ihrem ersten Rundgang haben sie keine Kerzen gefunden. Im unteren Stockwerk ist es dunkel, weil sie vorsorglich alle Türen und Jalousien geschlossen haben. Oben aber fällt noch ein diffuses Licht ein, verleiht den Gegenständen Konturen und spiegelt sich gespenstisch im Fernsehbildschirm. Über der schwarzen Silhouette der Berge strahlt der Himmel noch eine matte Energie aus, ein phosphoreszierendes Licht, wie geschmolzenes Metall, das abzukühlen beginnt.
María und Ginés brauchen kein Licht. Sie haben abgemacht, dass sie früh ins Bett gehen und bei Sonnenaufgang aufstehen. Vorher sind sie kurz in den Swimmingpool gesprungen, mehr um sich den Schweiß vom Leib zu waschen, als um sich zu erfrischen; sie haben das Haus durchsucht, frische Wäsche angezogen; sie haben gegessen – alles freudlos, schnell, wortkarg, mit verlorenem Blick, versunken in ihren dunklen Gedanken, getrieben von der einbrechenden Nacht. Schließlich sind sie ins Schlafzimmer hinaufgegangen, haben das Bett gemacht und sich nebeneinander auf die Decke gelegt, erschöpft, traurig, hellwach, ohne einschlafen zu können.
«Die Moskitos werden uns auffressen», sagt María.
«Angeblich tut es nicht weh.»
«Was?»
«Wenn man
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