Enders Schatten
anderen, dass niemand versuchte, in diesen geschlossenen Kreis einzudringen. Alai und Shen hatten zu Ender Wiggins Frischlingsgruppe gehört, und Vlad und Dumper, die den D- und den E-Zug der Drachenarmee befehligt hatten und Ender vielleicht am meisten anbeteten, schlossen sich ihnen an. Crazy Tom, Fly Molo und Hot Soup waren bereits in der Drachenarmee ein Trio gewesen. Auf einer persönlichen Ebene erwartete Bean nicht, in eine dieser Gruppen aufgenommen zu werden, aber er wurde auch nicht unbedingt ausgeschlossen; zumindest Crazy Tom zeigte echten Respekt vor Bean und zog ihn häufig ins Gespräch. Wenn Bean zu irgendeiner dieser Gruppen gehörte, dann war es die von Crazy Tom.
Es gab eigentlich nur einen Grund, wieso die Aufteilung in Cliquen ihn störte: Diese Gruppe war eindeutig ausgewählt worden und nicht nach dem Zufallsprinzip bunt zusammengewürfelt. Sie mussten lernen, einander zu vertrauen. Aber man hatte sie für Ender ausgewählt â das konnte jeder Idiot sehen â , und es stand Bean nicht zu vorzuschlagen, dass sie die Spiele an Bord gemeinsam spielen, gemeinsam lernen, alles gemeinsam tun sollten. Wenn Bean versuchte, eine Art von Führerschaft zu ergreifen, würde das nur noch mehr Mauern zwischen ihm und den anderen aufbauen, als bereits existierten.
Es gab eine Person in der Gruppe, von der Bean glaubte, dass sie nicht hierhergehörte. Aber dagegen konnte er nichts tun. Offensichtlich waren die Erwachsenen nicht der Ansicht, dass Petra sich am Vorabend des tödlichen Kampfes mit Bonzo im Flur beinahe des Verrats schuldig gemacht hätte. Aber Bean wusste nicht genau, was er von der Sache halten sollte. Petra gehörte zu den besten Kommandanten; sie war gescheit und imstande, Zusammenhänge zu erkennen. Wie war es möglich, dass Bonzo sie hereingelegt hatte? Selbstverständlich hatte sie nicht gewollt, dass Ender zusammengeschlagen oder gar getötet wurde. Aber sie war bestenfalls achtlos gewesen, und schlimmstenfalls hatte sie ein Spiel gespielt, das Bean noch nicht verstand. Also blieb er misstrauisch. Das war nicht gut, aber er konnte es nicht ändern.
Bean verbrachte die vier Monate der Reise überwiegend in der Bibliothek des Schiffes. Nun, da die Kampfschule hinter ihnen lag, war er einigermaÃen sicher, dass man sie nicht mehr so intensiv ausspionierte. Der Zerstörer war einfach nicht dafür eingerichtet. Also verzichtete er darauf, seinen Lesestoff mit Blick darauf auszuwählen, was die Lehrer aus seiner Auswahl machen würden.
Er las nichts mehr über Militärgeschichte oder -theorie. Er hatte bereits alle bekannteren Autoren und viele unbekanntere gelesen und kannte die wichtigen Feldzüge in- und auswendig. Sie waren in seinem Gedächtnis verankert und konnten jederzeit abgerufen werden, wenn er es wollte. Was seinem Gedächtnis fehlte, war das groÃe Ganze. Wie die Welt funktionierte. Politische, soziale, ökonomische Geschichte. Was in Nationen geschah, wenn sie keinen Krieg führten. Wie sie sich in Kriege verwickelten und wieder davon befreiten. Wie Siege und Niederlagen sie berührten. Wie Bündnisse geschlossen und gebrochen wurden.
Und am wichtigsten, aber am schwierigsten zu finden: was heute in der Welt eigentlich los war. Die Bibliothek des Zerstörers enthielt lediglich Informationen, die aktuell gewesen waren, als sie zum letzten Mal an der Interplanetaren Startbasis â ISB â angelegt hatten, wo die autorisierte Dokumentenliste zum Herunterladen zur Verfügung stand. Bean konnte weitere Informationen beantragen, aber die würde der Bibliothekscomputer speziell anfordern und dazu eine Frequenz benutzen müssen, die abhörsicher war. Es würde auffallen, und dann würden sich alle fragen, wieso dieses Kind sich mit Dingen beschäftigte, die es nichts angingen.
Aber auch mit dem, was er an Bord finden konnte, war es ihm noch möglich, sich ein Bild von der grundlegenden Situation auf der Erde zu machen und ein paar Schlüsse zu ziehen.
Während der Jahre vor der Ersten Invasion hatten diverse Machtblöcke um die Vorrangstellung gewetteifert und dabei eine Kombination aus Terrorismus, gezielten Angriffen, begrenzten militärischen Operationen und wirtschaftlichen Sanktionen, Boykotten und Embargos benutzt, um die Oberhand zu gewinnen, Warnungen zu erteilen oder einfach ihrem nationalen oder ideologischen Zorn Ausdruck zu verleihen. Als die Schaben
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