Enders Schatten
Kind so brillanter Eltern sein, dass die Welt sie bemerkt hatte â oder nicht? Konnte ein Verstand wie der seine von gewöhnlichen Eltern abstammen? War dies das Wunder, mit dem alle anderen Wunder begannen?
Ganz gleich, wie sehr Schwester Carlotta sich bemühte, das zu glauben, sie konnte es nicht. Bean war nicht das, was er zu sein schien. Er befand sich jetzt in der Kampfschule, und es bestand durchaus die Chance, dass er eines Tages der Kommandant einer groÃen Flotte wurde. Aber was wusste man schon über ihn?
War es möglich, dass er überhaupt kein natürliches menschliches Wesen war? Dass seine auÃergewöhnliche Intelligenz ihm nicht von Gott, sondern von jemand oder etwas anderem verliehen worden war?
Und dann war da noch die Frage: Wenn nicht Gott, wer könnte ein solches Kind sonst geschaffen haben?
Schwester Carlotta schlug die Hände vors Gesicht. Wo kamen derartige Gedanken her? Warum musste sie nach all diesen Jahren des Suchens den einen groÃen Erfolg, den sie gehabt hatte, anzweifeln?
Wir haben das Tier aus der Offenbarung gesehen, sagte sie sich. Die Schaben, das Formic-Ungeziefer, das der Welt die Vernichtung bringt, wie es geweissagt wurde. Wir haben das Tier gesehen, und vor langer Zeit haben Mazer Rackham und die Flotte der Menschen diesen groÃen Drachen kurz vor unserer Niederlage getötet. Aber er wird wiederkehren, und der Heilige Johannes sagte, dass dann ein Prophet erscheinen würde.
Nein, nein. Bean ist gut, ein herzensguter Junge. Er ist kein Teufel und nicht der Diener des Tiers. Ein Junge mit groÃer Begabung, den Gott vielleicht geschaffen hat, um diese Welt in der Stunde ihrer gröÃten Gefahr zu segnen. Ich kenne ihn, wie eine Mutter ihr Kind kennt. Ich irre mich nicht.
Aber als sie wieder in ihr Zimmer kam, begann sie am Computer nach etwas Neuem zu suchen. Nach Berichten über Wissenschaftler, die vor fünf Jahren und länger an Projekten gearbeitet hatten, die sich mit der Veränderung der menschlichen DNS befassten.
Und während das Suchprogramm all die groÃen Verzeichnisse in den Netzen erforschte und die Antworten in nützliche Kategorien sortierte, ging Schwester Carlotta zu dem ordentlichen Haufen zusammengefalteter Kleidungsstücke, die aufs Waschen warteten. Sie würde sie doch nicht waschen. Sie steckte sie in eine Plastiktüte, zusammen mit Beans Laken und dem Kissenbezug, und versiegelte den Beutel. Bean hatte diese Kleidung getragen, auf diesem Bettzeug geschlafen. Es musste kleine Partikel seiner Haut daran geben. Ein paar Haare. Vielleicht genug DNS für eine ernsthafte Analyse.
Er war ein Wunder, ja, aber sie wollte genau herausfinden, welche Dimensionen dieses Wunder hatte. Ihr Auftrag hatte nicht darin bestanden, die Kinder der Welt auf den grausamen StraÃen der Städte zu retten. Ihr Auftrag hatte darin bestanden, jene Spezies zu retten, die Gott nach seinem Abbild geschaffen hatte. Und das war immer noch ihr Auftrag. Und wenn etwas mit dem Kind, das sie als ihren geliebten Sohn ans Herz gedrückt hatte, nicht stimmte, wollte sie auch das herausfinden und die Welt warnen.
7
Erforschung
»Diese Frischlingsgruppe ist also nur langsam zu ihrer Unterkunft zurückgekehrt?«
»Es gibt eine Diskrepanz von einundzwanzig Minuten.«
»Ist das viel? Ich wusste nicht einmal, dass so etwas beobachtet wird.«
»Aus Sicherheitsgründen. Und um notfalls eine Vorstellung davon zu haben, wo sich alle befinden. Wenn wir die Uniformen, die von der Messe aus aufbrachen, mit denen vergleichen, die in der Unterkunft eintrafen, kommen wir auf insgesamt einundzwanzig Fehlminuten. Das könnten einundzwanzig Kinder sein, die eine Minute getrödelt haben, oder ein Kind, das einundzwanzig Minuten brauchte.«
»Das ist wirklich sehr hilfreich. Soll ich sie fragen?«
»Nein! Verraten Sie ihnen nicht, dass wir sie mithilfe ihrer Uniformen verfolgen. Es ist nicht gut, wenn ihnen bekannt ist, wie viel wir über sie wissen.«
»Oder wie wenig.«
»Wenig?«
»Wenn es sich um einen einzigen Schüler handelt, wäre es nicht gut, wenn er erführe, dass unsere Verfolgungsmethoden uns nicht mitteilen, wer er ist.«
»Guter Einwand. Eigentlich bin ich zu Ihnen gekommen, weil ich glaube, dass es nur ein einziger Schüler war.«
»Obwohl Ihre Daten keine klare Aussage zulassen?«
»Wegen des Ankunftsmusters. Meist Gruppen von zwei oder drei
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