Endithors Tochter
…«
»Pst. Bleib liegen, Lera. Schließ die Augen. Schlaf. Ich bin zurück, ehe du aufwachst.«
Der Junge war so bestimmt auf sanfte, überzeugende Weise und so reif, trotz seiner Jahre, dass Lera, die sich nichts mehr wünschte, als ihren Sorgen zu entkommen und sich zu entspannen, sich auf das Kissen zurücklegte und die Augen schloss.
Sofort spürte sie Chosts Lippen auf ihren – fest und doch unsicher …
Sie hob die Lider, richtete sich halb auf.
Doch schon rannte Chost – verlegen, vermutlich – zur Tür. »Ruh dich aus«, riet er ihr nochmals und schloss die Tür hinter sich.
Lera war verwirrt. Sie fand die Erinnerung an diesen Kuss angenehm, aber sie wusste nicht, wie sie diesen Straßenjungen in ihrem Herzen einordnen sollte. Sie legte sich zurück, krümmte nervös die Zehen, starrte auf die Holzdecke – seufzte …
Schloss die Augen …
Öffnete sie, warf einen Blick zum Fenster, wo sich bereits die Abenddämmerung anmeldete – und stellte sich Grauen vor, die über die der Zauberei ihrer Herrin hinausgingen …
Malte sich aus, wie Kus sie blutig küsste – nicht wie Chost sie zärtlich geküsst hatte und vorsichtig, ein Junge, der zum ersten Mal die Lippen eines Mädchens kostete, eines Mädchens, das gerade erst zur Frau erwachte …
Auf dem Gang erklangen Schritte – Chost kehrte zurück, ehe Lera bemerkte, wie dunkel es inzwischen geworden war.
Aufgeregt setzte sie sich auf. »Was …?«
Chost schloss grinsend die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen und zog ein Messer aus dem Gürtel.
»Was ist das?«
»Ein Messer – ein Eisendolch!«
»Wo hast du ihn her?«
»Von einem Dummkopf von Kaufmann. Ich kenne mich aus.«
»Chost – ein Eisenmesser?«
Er ging zu ihr, setzte sich auf. die Bettkante, hielt das Messer in beiden Händen und blickte ernst darauf. »Falls wir es brauchen, Lera«, sagte er leise.
Lera starrte auf die Waffe. Sie war einfach, dunkel und wies ein paar Rostflecken auf – keinesfalls ein teures Stück, aber brauchbar und mit scharfer Klinge.
»Es war zum Teil auch Glück«, gestand Chost, »eine eiserne Waffe so schnell und leicht zu finden. Das Messer war im Lagerraum eines Ladens gleich hier in der Straße. Vielleicht ist es dumm, so etwas zu denken – aber falls wir es brauchen …« Er wog das Messer in einer Hand und drehte sich zu Lera um.
Sie schluckte, versuchte zu lächeln, während ihre Augen feucht wurden. Sie senkte den Kopf.
Chost legte den Dolch auf das Bett, beugte sich über Lera, drückte sie an sich, küsste sie – länger als nur einen flüchtigen Moment …
10
Während seiner Ruhezeit, die kein richtiger Schlaf war, hatte Kus manchmal Visionen – konnte man sie Träume nennen? Visionen der Vergangenheit und hin und wieder auch der Zukunft. Kurz ehe die Nacht sich auf Shadizar herabsenkte – kurz bevor Kus wieder zu sich fand, zu einem Sein, das weder Leben noch Tod war – sah er erneut seinen Tod und seine Auferstehung. Beides lag lange zurück und war in einer anderen Welt geschehen.
Er erinnerte sich des Schlachtfelds – der Trompeten, der anstürmenden Streitrosse, der klirrenden Klingen, der Schreie; ja, gut erinnerte er sich an den Tod und die Qualen, das Blut und das Gemetzel scheinbar überall.
Das Schlachtfeld, wo man meinen sollte, dass die Gefallenen wahrhaftig eine überirdische Belohnung verdient hätten und nicht auf die Erde zurückkehren müssten mit ihrem Körper voll ungewöhnlichem Verlangen und ihrer Seele in einer grauen Welt zwischen dieser und einer anderen.
Er hatte sich für tot gehalten – hatte sich ans Sterben erinnert – doch da war er erwacht, hatte den Blutsauger an seiner Kehle gespürt und seine krallengleichen Nägel in seinem Fleisch. So vollkommen war dieses Gefühl gewesen und doch so übernatürlich – wie ein Edelstein, der in allen Farben des Regenbogens schillerte –, dass Kus, als er auf dem Schlachtfeld aus dem Tod erwachte, erschauderte und die Erfüllung höchster Lust in den Armen des Weibwesens fand, das ihn – nackt, kalt, schwarzhaarig, grünäugig – mit roten Lippen küsste.
Dann hatte sie sich seinen Armen entzogen und war fauchend, zischend, knurrend, über den Boden scharrend, davongelaufen über das mondhelle Schlachtfeld, um sich an dem Blut anderer Toter oder Sterbender gütlich zu tun.
Kus, der nicht ganz bis auf den Tod ausgesaugt war, hatte sich erhoben, geschwächt zwar, aber von etwas Neuem angetrieben, das nicht wirkliches Leben war, und hatte
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