Endlich wieder leben
wieder heil in die Wohnung nach Berlin zurückgebracht.
Da war ihr Mann, ein Huf- und Wagenschmied aus Westpreußen, bereits vollständig erblindet. Das erste Auge hatte er vor dem Krieg durch einen Splitter bei der Arbeit verloren. Das zweite Auge verlor er nach dem Krieg, als er bei Bergungsarbeiten auf eine Mine trat. Bärbel stieß nach der Rückkehr aus Ostpreußen auf einen Vater, der mit seinem Schicksal haderte, weil er die Verantwortung als Familienoberhaupt hatte abtreten müssen. Es war seine Frau, die hamstern und stoppeln ging, als die Familie am Verhungern war, während ihr Mann im Bett lag, um Kalorien zu sparen. Es war seine Frau, die
bei Wind und Wetter als Verkäuferin an einem Obststand ausharrte, während er sich von Bärbel führen lassen musste, um ihr die warme Suppe zu bringen, die sie selbst vor Arbeitsbeginn gekocht hatte.
Allein war er zu fast nichts mehr imstande. »Bärbel, scheint die Sonne noch? Passen die Socken zueinander? Wo liegt meine Jacke?« Bärbel, gerade einmal zehn, zwölf Jahre alt, las ihm die Rentenbescheide vor, zwei, auch drei Mal, weil er sich den Inhalt nicht merken konnte. Bärbel schrieb die Antwortbriefe an die Behörden, obwohl sie manchmal einen ganzen Tag lang an einem Satz herumbastelte. Bärbel führte den Vater zum Arzt, zum Blindenverein, und sie führte ihn bis vor die Wohnungstüren seiner Geliebten.
»Warum lässt du dich nicht scheiden«, fragte Bärbel die Mutter. Doch eine gläubige Katholikin ließ sich nicht von einem blinden Mann scheiden. Glücklicherweise, sagte sie später einmal, habe er es nur mit »soliden« Frauen getrieben, die es nicht auf seine Versehrtenrente abgesehen, sondern von der eigenen Kriegerwitwenrente gelebt hätten. Wütend wurde die Mutter nur, wenn sich das Verhalten ihres Mannes gegen die Töchter richtete. Als sie von einer Hamsterfahrt einmal früher als erwartet nach Hause zurückkehrte, sah sie ihn mit eigenartig hüpfenden Bewegungen in der Küche umherlaufen. Er hatte, als sich der Schlüssel in der Wohnungstür drehte, blitzschnell heiße Kartoffeln in die Hosentaschen gleiten lassen. Was für alle gedacht war, sollte eine Mahlzeit nur für ihn werden. Seit diesem Vorfall wusste Bärbel: Wenn Menschen wirklich darben, hört die Solidarität selbst in der Familie auf.
Sie schämte sich für diesen Vater, der seine Frau betrog und umso aggressiver und gemeiner wurde, je hilfloser er sich fühlte. Andere Familien in der Nachbarschaft besaßen Mitte der 1950er Jahre bereits einen Fernseher, doch Bärbels Vater lehnte den Kauf ab: Ich sehe ja sowieso nichts. Er weigerte sich auch, die Stromrechnung zu bezahlen: Ich verbrauche keinen Strom. Um zu zeigen, dass er sich trotz Blindheit nicht hintergehen ließ, sann er auf immer raffiniertere Methoden der Kontrolle. Wenn Bärbel sich abends mucksmäuschenstill in eine Ecke der Wohnung zurückzog, um nicht von ihm in
Dienst genommen zu werden, kontrollierte er die Glühbirnen: Wenn sie heiß waren, wusste er, dass Licht brannte.
Bärbel war oft wütend auf ihn, manchmal hasste sie ihn geradezu. Doch wenn er sich durch das Zimmer tastete, stieg wieder Mitleid in ihr auf. Wir lassen ihn nicht in sein Unglück laufen, hatte sie sich mit ihrer Schwester geschworen. Wir lassen ihn nicht allein in der Stadt zurück, wir verschweigen ihm auch nicht, wenn er oben vor einer Treppe steht. Allein gelassen, verirrte und verletzte er sich. Nicht selten sah Bärbel ihn mit blauen Flecken oder Platzwunden am Kopf, weil er in der Wohnung gegen eine Schranktür gelaufen oder über eine Tasche gestolpert war.
Glücklicherweise entspannte sich die Situation Mitte der fünfziger Jahre. Bärbels Vater wurde als Kriegsopfer anerkannt, erhielt eine Versehrtenrente in der Höhe eines Handwerkerlohns und einen Blindenhund. Die Mutter konnte zu Hause bleiben, Bärbel der Familie entfliehen und ein Studium aufnehmen. Im Rückblick erscheint ihr die Lage schwieriger als damals: »Damals hatten wir nicht das Gefühl, dass es uns besonders schlecht ging. Millionen anderer Haushalte lebten unter ähnlich schwierigen Familienverhältnissen.« 1
Zwölf Millionen Flüchtlinge und Millionen von Ausgebombten lebten damals in Restdeutschland auf engstem Raum. Fast jede Großfamilie hatte Verluste zu beklagen. 3,25 Millionen Soldaten waren gefallen, 1,21 Millionen kamen noch in der Gefangenschaft um. Die elf Millionen Kriegsgefangenen kehrten erst allmählich zu ihren Familien zurück – die letzten nach
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