Endlich wieder leben
Sog in die Betriebe. Doch Frauenarbeit war unattraktiv; der durchschnittliche Bruttolohn lag in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre um 35 bis 38,5 Prozent unter dem der Männer. 13 In der Bundesrepublik sollte die Frau ihren Platz
am Herd und nicht wie in der DDR an der Werkbank finden. Denn eine Berufstätigkeit, so Wuermeling, führe zu einer »brutalen Sowjetisierung der Frau«; eine Familie, in der sich die Frau auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter beschränke, sei somit das »stärkste Bollwerk der persönlichen Freiheit« im »Kampf gegen den Kollektivismus«. So ließ sich die Familienpolitik sogar im Kalten Krieg instrumentalisieren.
Als treuester Verbündeter stand Wuermeling die katholische Kirche zur Seite, die mit der innerfamiliären Entscheidungsgewalt des Mannes die »natürliche Eheordnung« verteidigte und seine Vorstellung von der Unauflöslichkeit der Ehe stützte (was 1961 dazu führte, dass Scheidungen erschwert wurden). Mitstreiter fanden sich auch unter Medizinern, Pädagogen, Soziologen und Theologen. So gab es Ärzte, die die Erwerbsarbeit bei Frauen für gesundheitsschädigend erklärten und aufgrund der Doppelbelastung vor Frühinvalidität warnten. Es gab Politiker, die die so genannte Zölibatsklausel verteidigten, wonach das Arbeitsverhältnis von Frauen in der Privatwirtschaft wie im Staatsdienst mit der Eheschließung beendet werden konnte – erst 1957 erklärte das Bundesarbeitsgericht diese Regelung für verfassungswidrig. Es gab Fußballfunktionäre, die den DFB-Vereinen 1955 unter Strafandrohung verboten, Frauen Fußball spielen zu lassen: »Im Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden, und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Schicklichkeit und Anstand.« 14
Die juristische und tatsächliche Gleichberechtigung war nur gegen massive Widerstände durchzusetzen. In Anlehnung an die Weimarer Verfassung hatte die Mehrheit der »Verfassungsväter« für das Bonner Grundgesetz zunächst die Formulierung vorgeschlagen: »Männer und Frauen haben dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten«, was die Gleichberechtigung im Arbeitsleben und in der Familie ausgeklammert hätte. Doch glücklicherweise setzte die sozialdemokratische Juristin Elisabeth Selbert mit großer Verve und politischem wie juristischem Sachverstand in zweiter Lesung die schließlich akzeptierte Formulierung »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« durch, wie sie der Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes seitdem festschreibt.
Bild 2
… und am siebten Tage sollst du ruhen. Die Arbeitswoche reichte bis Samstagmittag. Danach mussten Haus und Garten gewischt beziehungsweise geharkt werden und ein Familienmitglied nach dem anderen in die Zinkbadewanne steigen. Erst der Sonntag brachte Entspannung: Nach Kirchgang und Sonntagsbraten ging es zum Kaffee hinaus ins Grüne.
»Ich hatte gesiegt«, erklärte Elisabeth Selbert in einem Vortrag 1978, »und ich weiß nicht, ob ich Ihnen das Gefühl beschreiben kann, das ich in diesem Augenblick gehabt habe. Ich hatte einen Zipfel der Macht in meiner Hand gehabt, und diesen Zipfel der Macht, den habe ich ausgenützt, aber auch in voller Tiefe, in aller Tiefe, in aller Weite, die mir theoretisch zur Verfügung stand. Und es war die Sternstunde meines Lebens, als die Gleichberechtigung der Frau damit zur Annahme kam.« 15
Die Anpassung an die nun im Grundgesetz verankerte Gleichberechtigung in die übrige Gesetzgebung zog sich allerdings über viele Jahre hin. Bastionen der männlichen Vorherrschaft wie das »Letztentscheidungsrecht« wurden erst 1957 endgültig abgeschafft. Künftig brauchten die Frauen nicht mehr die Erlaubnis des Mannes einzuholen, wenn sie politisch tätig sein, ein Konto einrichten, den Führerschein machen oder über das Vermögen verfügen wollten, das sie selbst mit in die Ehe gebracht hatten. Der Mann besaß auch nicht mehr das Recht, ein Dienstverhältnis seiner Frau fristlos zu kündigen.
Zwei Jahre später verkündete Erna Scheffler, die in der NS-Zeit als Halbjüdin aus dem Richteramt entlassen und 1951 als einzige Frau in das Bundesverfassungsgericht berufen worden war, dass auch der sogenannte Stichentscheid 16 ungesetzlich sei, der bis dahin in Streitfragen der Erziehung die endgültige Entscheidung dem Vater zugesprochen hatte.
Im Alltag blieb für die meisten Männer die patriarchale Autorität allerdings genauso selbstverständlich wie für die Mehrheit der Frauen, die
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