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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Adenauers Intervention in Moskau 1955. Rund 750 000 Schwerversehrte waren zudem von Versorgern zu Versorgten geworden, und unter jenen, die den Krieg äußerlich heil überstanden hatten, hatten viele Schaden in ihren Seelen genommen. Sie schreckten nachts aus den immer gleichen Alpträumen hoch, wurden apathisch, depressiv, lebensuntüchtig. Besonders unter den Spätheimkehrern, die jahrelang gehungert und schwere Arbeiten verrichtet hatten, blieben viele reizbar, egozentrisch, unfähig zum Dialog, selbst wenn sie – nach der häufigen Diagnose von Dystrophie – körperlich wieder aufgepäppelt waren.

    Der Gedanke an ihre Liebsten hätte sie am Leben erhalten, so sagten fast alle Soldaten und Spätheimkehrer nach der Rückkehr. Das Heim hatte ihre Hoffnung auf eine liebevolle, ordentliche, geschützte Aufnahme symbolisiert. Umso größer war die Enttäuschung, wenn sie nach Jahren der Abwesenheit nicht mehr die Frauen vorfanden, die sie verlassen hatten.
    »Ja, wir haben Haare auf die Zähne gekriegt«, bekannte eine Frau in einem Brief an ihren Mann, »und ich gebe mich da keinen Illusionen hin, so schwer es jetzt auch für uns beide ist, das Bitterste steht uns noch bevor, wenn wir uns wieder zusammenbeißen müssen.« 2 Sie merke, notierte eine Berlinerin 1945 in ihrem Tagebuch, »dass sich mein Gefühl, das Gefühl aller Frauen den Männern gegenüber ändert. Sie tun uns leid, erscheinen uns so kümmerlich und kraftlos. Die männerbeherrschte Nazi-Welt wankt – und mit ihr der Mythos ›Mann‹. Am Ende dieses Krieges steht neben vielen anderen Niederlagen auch die Niederlage der Männer als Geschlecht.« 3
    Manche Männer fühlten sich nicht nur verachtet, sondern auch angeklagt. Die 1943 geborene Journalistin und Schriftstellerin Elke Heidenreich erinnerte sich »an einen entsetzlichen Streit zwischen meinen Eltern, der damit endete, dass meine Mutter meinen Vater kalt ansah und sagte: Spiel dich nicht so auf. Letzten Endes bist du nichts anderes als alle anderen auch – ein Mörder. Mit diesem Satz muss sie eine Mauer eingerissen haben, die er zum Schutz um sich herum aufgebaut hatte. Damals fing er an zu trinken und legte sich die beiden Freundinnen zu. Das war der Anfang vom Ende unserer Familie.«
    In Ehen wie dieser kämpften die Frauen nicht mehr um die Männer; sie duldeten die Geliebten und hatten noch einen Grund für Spott. Wenn Elke Heidenreichs Vater nachts wegblieb, weil er angeblich bei seinem Bruder Walter oder Otto übernachtete, pflegte seine Frau nur höhnisch anzumerken: »Sag Walter, er soll weniger Parfum auftragen. Du stinkst entsetzlich, wenn du von dort kommst. Oder: Vergiss nicht, für Otto die Seidenwäsche mitzunehmen, die ich in deinem Schrank gesehen habe.« 4

    Einige Frauen lebten bei der Rückkehr ihrer Ehemänner bereits mit anderen Männern zusammen, weil sie die Angetrauten für tot gehalten oder sich während deren langer Abwesenheit neu verliebt hatten. Oftmals erwiesen sich nicht einmal gemeinsame Kinder als Kitt; Söhne und Töchter hatten kaum Erinnerungen an ihre leiblichen Väter und fremdelten, wenn sie zurückkehrten. Besonders häufig desillusioniert waren Paare, deren Ehen erst während des Krieges geschlossen worden waren. Die Ehepartner hatten nie einen gemeinsamen Alltag bewältigt und nicht gelernt, mit Krisen umzugehen.
    »Es wäre müßig«, hieß es Ende 1950 im Rheinischen Merkur , »auf der einen oder anderen Seite nach der Schuld zu suchen … Man kann nicht da fortfahren, wo man vor vier bis acht Jahren aufhörte – ja, man kann nicht einmal ›von vorn‹ anfangen. Zwei Menschen, zwischen denen ›der Stacheldraht‹ stand, können einander fremder sein, als da sie sich zum ersten Mal begegneten.« 5
    Den Männern fehlten oft die Kraft und das Selbstvertrauen, um sich als Familienoberhaupt neue Anerkennung zu verschaffen; vielen Frauen machte die neue Selbstständigkeit erneute Unterordnung schwer, wenn nicht unmöglich. Hatten Scheidungen schon 1939 mit 8,9 auf 10 000 Einwohner einen sehr hohen Stand erreicht, so schnellte diese Zahl bis 1948 in den Westzonen mit 18,8 noch einmal auf über das Doppelte hoch: Allein in diesem Jahr gingen 87 013 Paare auseinander. Noch 1950 blieb die Scheidungsrate mit 16,9 auf einem hohen Niveau und sank erst bis Mitte der fünfziger Jahre etwa auf den Stand von 1939. 6
    Meistens waren es die Frauen, die sich von ihren Männern trennten, obwohl die Chance auf eine neue Ehe äußerst gering war.

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