Endlich wieder leben
Deutschland war zum »Land der Frauen« geworden. Es herrschte, wie es allgemein hieß, ein »Frauenüberschuss«. »Welch ein hässliches Wort«, empörte sich die Autorin Helga Prollius in der Constanze . »Und welch noch hässlichere Bedeutung! Ein Wort, das … nichts mehr und nichts weniger bezeichnet als eine Ware, und zwar als eine Ware, die über-schüssig und in letzter Folge über-flüssig ist.
Eine Ware, die nicht gebraucht und nicht ›an den Mann‹ gebracht werden kann.« 7
Die Ämter registrierten rund 1,2 Millionen Kriegerwitwen, 8 andere Frauen waren als Verlobte oder Freundinnen zurückgeblieben. Bei der ersten, im Oktober 1946 durchgeführten Volkszählung kamen in Ost- und Westdeutschland auf 100 Männer 126 Frauen, in Groß-Berlin waren es sogar 146 Frauen auf 100 Männer. Vier Jahre später, als die meisten Männer aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt waren, wurden in der Bundesrepublik auf 100 Männer im Alter zwischen 25 und 40 immer noch 130 Frauen gezählt. 9 Während gerade einmal 3,4 Prozent der Männer verwitwet waren, machten verwitwete Frauen zwölf Prozent der Bevölkerung aus. 10
An die Stelle der traditionellen Familie traten vielerorts aus Not geborene Gemeinschaften von jungen Frauen mit Müttern, Tanten, Onkeln, Großmüttern und Großvätern, von Kriegerwitwen und ihren Kindern mit den Familien von Brüdern und Schwestern oder auch ganz einfach von verwitweten Frauen mit ihren Kindern. Zwei Drittel der Bewohner Westdeutschlands, so die Soziologin Regina Bohne, lebten in »mehrschichtigen Familienverbänden«.
Die Familie, konstatierte 1953 der Soziologe Helmut Schelsky, sei durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse in eine »außergewöhnliche Gefährdung« hineingeraten, »die ernsthafteste, der die Familie seit langem in unserer Sozialgeschichte ausgesetzt war«. 11 Umso größer wurde der ideologische Druck, dieser »Urzelle der Gemeinschaft unseres Volkes« wieder Geltung zu verschaffen.
Es bedürfe wohl keiner Versicherung, erklärte Konrad Adenauer bei seinem Regierungsantritt 1949, »dass wir fest und entschieden gegenüber allen entgegengesetzten Tendenzen auf dem Boden des Artikels 6 des Grundgesetzes stehen, in dem es heißt: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.«
Die propagierte patriarchalische »Normalfamilie« bestand aus einem erwerbstätigen Mann als Familienoberhaupt, einer Frau in der Funktion als Hausfrau und Mutter sowie mindestens zwei gemeinsamen Kindern. Innerhalb der Familie galt die patriarchale Autorität.
Der Ehename war automatisch der des Mannes, der Mann konnte über die Berufstätigkeit der Frau entscheiden, die gesetzliche Vertretung der Kinder lag allein in seinen Händen.
Wenn sich diese juristischen Bestimmungen noch einige Jahre lang halten konnten, obwohl sie im Widerspruch zum Grundgesetz standen, und wenn Westdeutschland strukturell und mental noch einmal zum Status quo ante zurückkehrte, zu »Sittlichkeit« und »Anstand«, zu einer »natürlichen Ordnung von Ehe und Familie«, wie sie angeblich das Leben selbst mit der patriarchalisch geprägten Kleinfamilie entwickelt hätte, 12 lag das nicht zuletzt an ideologischen Kämpfern wie Franz-Josef Wuermeling. Im ersten bundesdeutschen Parlament Leiter der »Kampftruppe für die Familie« innerhalb der CDU/CSU-Fraktion, 1953 bis 1962 Leiter des neu geschaffenen Ministeriums für Familienfragen, wurde er ein vehementer »Advokat und Schutzpatron der deutschen Familie«.
Dem fünffachen Vater und gläubigen Katholiken war das Amt des Familienministers wie auf den Leib geschneidert. Zwar blieb die Gewährung von Kindergeld, Fahrpreisermäßigungen für kinderreiche Familien oder die Förderung des Familieneigenheimbaus letztlich einzelnen Ressorts wie dem Innen-, Finanz- oder Wohnungsbauministerium vorbehalten. Aber Wuermeling, der begabte Redner und dickköpfige, auch sprunghafte Politiker, warb in der Öffentlichkeit für die weltanschaulichen Grundlagen seiner Familienpolitik, verteilte moralische Zensuren und übte politischen Druck in seiner Fraktion wie im Parlament aus.
Für Mutterwirken, erklärte Wuermeling, gebe es keinen vollwertigen Ersatz. Familienbeihilfen sollten die Frau im Haus halten, fehlende Kindergärten es ihnen erschweren, erwerbstätig zu werden. Im Mai 1955 hatten die Frauen mit 33,6 Prozent noch nicht wieder den Anteil unter den Beschäftigten erreicht wie 1939. Zwar verursachte der wirtschaftliche Aufschwung einen
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