Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Life verloren hatte, ekelte ihn das amerikanische Rechtssystem derartig an, dass er sich weigerte, Steuern zu zahlen.
Nach Luft schnappend, versuchte Bobby sich durch Meditation zu beruhigen und seinen Geist frei zu machen. Er gab seinen Widerstand auf, sein Körper entspannte sich. Die Wachleute bemerkten die Veränderung. Sie gaben seine Arme und Beine frei, standen auf, nahmen ihm vorsichtig die Kapuze ab und verließen die Zelle. Sie hatten seine Schuhe mitgenommen, seinen Gürtel, seine Brieftasche und – zu seiner großen Bestürzung – die Pass-Hülle aus Büffelleder, die er vor Jahren in Wien gekauft hatte. Doch er lebte… noch.
Als Bobby aufblickte, sah er einen Mann mit Dutzendgesicht, der ihn durch die Gitterstäbe wortlos mit einer Videokamera filmte. Nach ein paar Minuten verschwand der Mann. Bobby spuckte ein Stück Zahn aus, das während der Rauferei abgesplittert war, und steckte es sich in die Tasche.
Er lag auf dem Betonboden und spürte den Schmerz durch seinen Arm pulsieren. Was wäre der nächste Zug? Und wer würde ihn machen? Er dämmerte weg.
48 Jahre zuvor, im August 1956
Bobby Fischer, 13 Jahre alt, visualisierte auf einem imaginären Schachbrett seinen weißen Bauern vor seinem König und verkündete seinen ersten Zug: »Bauer auf König vier.« Dabei verwendete er eine Art der Schachnotation, bei der alle Züge aus Sicht des jeweiligen Spielers beschrieben werden. Beim Sprechen bewegte er den Kopf unbewusst, er nickte fast unmerklich, als wolle er den unsichtbaren Bauern nach vorn schieben.
Jack Collins, sein Gegner in dieser Partie, hatte verkümmerte Beine. In seinem Rollstuhl bahnte er sich einen Weg durch das Gedrängel auf New Yorks Bürgersteigen, geschoben von seinem schwarzen Butler Odell. Der Butler war so stark, dass er Collins mitsamt Rollstuhl hochheben und über Treppen in Häuser oder Restaurants tragen konnte – in jenen Zeiten ohne Zufahrtsrampen eine sehr wichtige Fähigkeit. Odell redete nicht viel, aber er war freundlich und äußerst loyal. Er hatte Bobby schon bei der ersten Begegnung ins Herz geschlossen.
Neben Collins ging seine jüngere Schwester Ethel einher, eine untersetzte, hübsche Krankenschwester, die ihn fast überallhin begleitete. Sie betete ihren Bruder an und verzichtete auf alles – selbst auf eine eigene Familie –, um für ihn sorgen zu können. Bobby hatte Jack und Ethel zwar erst in jenem Sommer kennengelernt, doch sie waren ihm rasch zu Ersatzeltern geworden.
Das Quartett, das aus einem Fellini-Film hätte stammen können, redete in einer obskuren Sprache über kaum bekannte Adlige, die Jahrhunderte zuvor gelebt hatten. Wenn sie den langen Brooklyner Straßenzug von der Lenox Road Ecke Bedford Avenue zur gelegentlich lärmenden Flatbush Avenue hinuntergingen, wurden sie von anderen Passanten neugierig beäugt. Doch das machte ihnen nichts aus; sie waren tief in ihre eigene Welt versunken, die mehrere Kontinente und Tausende Jahre umspannte, in der sich Könige und Höflinge tummelten, Radschas und Prinzen. Ziel der Gruppe war das Chinarestaurant Silver Moon .
»Bauer auf Damenläufer vier«, antwortete Collins in seiner Basso-profondo-Stimme, die man noch auf der anderen Straßenseite gut hörte.
Genau wie ein erfahrener Musiker beim Lesen einer Partitur die Musik in seinem Kopf »hört«, so kann ein starker Schachspieler mit gutem Gedächtnis eine ganze Partie ohne Brett spielen. Von dem Komponisten Antonio Salieri heißt es, ihm seien schon beim Lesen von Notenblättern mit der Musik Mozarts die Tränen gekommen. Auf ähnliche Weise kann es für Schachspieler höchst ergreifend sein, im Geist eine brillante Partie eines großen Meisters nachzuspielen.
In diesem Fall jedoch ließ Fischer keine historische Partie wiederaufleben. Nein, er schuf eine neue Partie, er komponierte sie »blind« als eine Abfolge von Zügen in seinem Kopf. Während er und Collins die Flatbush Avenue hinabwanderten, spielten sie sogenanntes »Blindschach«, eine seit Jahrhunderten praktizierte Form des Spiels. Es gibt Beschreibungen von arabischen Nomaden, die im Jahr 800 auf Kamelen reitend eine Art Schach ohne Brett und Figuren spielten. Viele erfahrene Schachspieler – von Laien ganz zu schweigen – finden es erstaunlich, zwei Menschen zuzusehen, die ohne Ansicht des Bretts gegeneinander spielen. Vielen kommt es fast mystisch vor, welche Gedächtnisleistung da erbracht wird.
Collins war ein hervorragender Schachtheoretiker und hatte die
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