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Endstation Nippes

Titel: Endstation Nippes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Strobl
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begriffen, sondern auch ganz praktisch erfahren. Aber das mit der Ehrlichkeit ist ein Problem. Ich habe eine ziemlich wilde Vergangenheit, und Lügen gehörte sozusagen zu meinem Überlebensrepertoire. Deshalb tendiere ich heute noch dazu, Storys zu erzählen, wenn ich denke, die Wahrheit könnte ich mir gerade nicht leisten. Ich habe mich damit schon in Teufels Küche gebracht und oft genug erlebt, dass mit der schlichten Wahrheit alles einfacher gewesen wäre. Aber manches sitzt halt tief. Tara wusste also sicher ganz genau, warum sie mir diese Inspiration zukommen ließ.
    Hotte bot mir ein alkoholfreies Bier an, was mich so sehr verblüffte, dass ich vergaß, mich zu bedanken. Er trinke kein echtes mehr, sagte er, er versuche gerade, vom Alkohol wegzukommen. »Der tut mir nicht gut«, meinte er. Ende des Kommentars.
    Plötzlich sah er mich prüfend an und fragte, ob ich etwas rauchen wollte. Ich zögerte einen Moment, entschied mich dann aber für einen klaren Kopf. »Is auch besser«, stimmte Hotte mir zu und öffnete die Flaschen. Wir nahmen beide einen Schluck, er legte sein Tabakpäckchen auf den Tisch, ich hielt ihm meine Schachtel hin, er schüttelte den Kopf und drehte sich eine. Nachdem er mir Feuer gegeben hatte, war kein Ritual mehr übrig, mit dem er sich vor dem Reden drücken konnte. Er nahm noch einen langen Zug, dann räusperte er sich.
    »Ich tät die Picos ja nehmen«, fing er an und legte dann eine Pause ein. »Aber die geben mir die nicht. Ich bin vorbestraft. – Und nicht bloß einmal«, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu.
    Er hatte die beiden Kinder im Heim besucht, erzählte er, bis man ihm eines Tages mitgeteilt hatte, er habe ab sofort Besuchsverbot. Warum, das hatte im niemand erklärt, aber er hatte sich seinen Reim darauf gemacht. Danach hatte er Chantal heimlich nach der Schule getroffen. Und dann hatte sie ihm eines Tages völlig verzweifelt erzählt, sie hätten Marco in eine Pflegefamilie geschickt.
    »Die haben ihr gesagt, sie hätte einen schlechten Einfluss auf ihren kleinen Bruder. Das musste dir mal reintun!« Er schüttelte den Kopf. Eher resigniert als wütend. Jemand wie Hotte traut dem Jugendamt und Co ohnehin nur Schlechtes zu. »Die haben so getan, als wär die Chantal schuld dran, dass der Kleine so bockig war. Der hat nämlich mit keinem geredet außer mit der Chantal. Der braucht ‘ne gezielte Förderung, haben sie ihr gesagt, und die könnte er im Heim so nicht kriegen. Und die Chantal, die wollte selber ums Verrecken in keine Pflegefamilie rein.« Er sah mich erneut prüfend an. »Das is ‘ne Wilde. Die is im Heim gut zurechtgekommen. Aber wie der Kleine weg war, da is die ständig ausgebüxt. Da war die auch viel bei mir.« Neuer Blick. Als müsste er immer noch einschätzen, ob ich vertrauenswürdig war. Ich ahnte, dass er jetzt endlich zum Kern der Geschichte kam.
    »Sie hat mir erzählt«, fuhr er schließlich mit gesenkter Stimme fort, »dass sie sich manchmal nach der Schule heimlich mit dem Marco getroffen hat. Und der ist immer komischer geworden. Die hat sich tierisch Sorgen gemacht um den Kleinen. Aber er hat ihr nie gesagt, was ist. Und immer, wenn sie gesagt hat: ›Komm, wir gehen zum Jugendamt, die sollen dich da rausholen‹, dann is der voll abgedreht.«
    Am vorletzten Schultag, berichtete Hotte weiter, hatte Chantal mit Marco vor seiner Tür gestanden.
    »Die hat mir den Pico in die Wohnung reingeschoben und is los, sich ein paar Sachen ausm Heim holen. Und wie sie wieder zurück war, hat sie mir erklärt, dass sie beide nicht mehr zurückgehen. Sie nicht ins Heim und der Marco nicht zu der Pflegefamilie. Und dass sie jetzt auf den Marco aufpasst.«
    Später hatte sie Hotte erzählt, was geschehen war: Marco hatte gesagt, er könne sich in den Ferien nicht mehr mit ihr treffen. Dabei hatte er, laut Chantal, ausgesehen »wie einer, der sich gleich vor die Bahn wirft«. Sie hatte ihm erklärt, dann würden sie jetzt zusammen abhauen. Sie würde auf ihn aufpassen, damit ihm nichts mehr passieren könnte. Er hatte stocksteif dagestanden und keinen Laut von sich gegeben. Sie hatte ihn schließlich an die Hand genommen und gesagt: »Komm, Hörnchen, wir gehen jetzt zum Hotte-Opa.« Und er war mit ihr mitgegangen.
    Die Küchentür öffnete sich, und Chantal sah uns misstrauisch an. »Was machst du hier?«, fragte sie in meine Richtung.
    »Wir unterhalten uns, junge Frau, dat siehste doch«, erwiderte Hotte.
    »Kann ich mir noch eine

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