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Endstation Nippes

Titel: Endstation Nippes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Strobl
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ein Sechsjähriger aussah und den Kopf von der Kamera wegdrehte. Erkennen würde ihn danach jedenfalls niemand, stellte ich erleichtert fest. Auch die Bildzeile war beruhigend: »Marco – lebt er noch?« Neles Verdacht war allem Anschein nach unbegründet. Der Text war kurz, vermutlich war die Presse erst bei Redaktionsschluss informiert worden.
    »›Es war ein schrecklicher Anblick‹, berichtet einer der Polizisten, die am gestrigen Nachmittag die Leiche der 37-jährigen Maria G. in einem Einfamilienhaus in Lindenthal fanden. Die Frau, die mit mehreren Messerstichen getötet wurde, war eine beliebte und angesehene Pflegemutter, teilte uns ein Mitarbeiter des Jugendamtes mit. Zuletzt lebte nur ein Junge bei ihr, der zehnjährige Marco M., der in dem Haus nicht aufgefunden wurde. Die Polizei hat die Suche nach dem Jungen eingeleitet.«
    »Wo sind die Kiddies?«, fragte Nele.
    »Ich hab den Marco ins Bett gepackt«, antwortete Hotte. »Der war völlig fertig. Ich hab ihm gesagt, die kann dir jetzt nix mehr tun, aber irgendwie hat den das überhaupt nicht beruhigt. Er hat wieder das volle Programm abgespult … Und die Chantal, die is mit ihm mit. Die is der einzige Mensch, der den Kleinen beruhigen kann.« Hotte sah mich kurz an, dann ließ er erschöpft die Schultern sinken. Er wirkte ziemlich überfordert.
    »Morgen kommt die Polizistin, die ich kenne, aus dem Urlaub zurück«, sagte ich, »dann sehen wir weiter.«
    »Kann die zu dir kommen?«, fragte Nele zweifelnd.
    Hotte warf ihr einen langen Blick zu. Dann erzählte er in knappen Worten, er habe das, was er »gerade am Laufen« hätte, aufgegeben. Der Kleine sei nun mal wichtiger. Jedenfalls sei er gerade sauber. – Und die Wohnung auch, fügte er hinzu.
    »Du bist ja echt ‘n Schatz«, jubelte Nele.
    »Davon kann ich nich leben«, knurrte Hotte.
    Nele wollte noch wissen, ob er einen Haftbefehl ausstehen habe, was er verneinte. »Dann können die Kiddies ja bei dir bleiben.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
    »Ich hab keine Frau, die sich drum kümmern kann«, protestierte Hotte.
    »Für was brauchste denn ‘ne Frau?«, erwiderte Nele. »Du hast doch nix zu tun, da kannste dich doch selber um die Pänz kümmern. Und die Chantal is ja schon groß.«
    »Wenn man von der Sonne spricht, kommt sie gelaufen«, ging ich dazwischen. Hotte wurde nämlich zunehmend grantiger.
    Chantal stand in der Tür und schaute verwirrt von einem zum andern. Sie wirkte müde, biss sich auf die Unterlippe und lehnte sich erschöpft an die Wand. »Dem Pico geht’s echt scheiße.«
    Ich bot ihr meinen Stuhl an, sie nahm ihn an. »Gibste mir ‘ne Kippe?«
    Ich schwankte noch, was ich tun sollte, da drohte Nele: »Wenn sie dir keine abgibt, drehste dir eine von meinen.«
    Ich gab klein bei, hatte aber ein schlechtes Gewissen. Das Mädchen war zwölf!
    Hotte stellte ihr eine Flasche Cola hin, die sie fast in einem Zug austrank.
    »Magste jetzt trotzdem den Film gucken?«, fragte er und fuhr ihr liebevoll durch die Haare. Sie sah zu ihm hoch, und ich bemerkte, dass sie Tränen in den Augen hatte. »Komm«, sagte Hotte und nahm ihre Hand. Sie ließ sich von ihm hochziehen und folgte ihm ins Wohnzimmer. Hotte legte die DVD ein, setzte sich neben Chantal und legte den Arm um sie. Sie lehnte sich gegen ihn und schloss die Augen. Hotte drückte ihr die Fernbedienung in die Hand. Einen Moment lang zögerte sie, dann drückte sie auf Start.
    Ich hatte keine Lust mehr auf »Herr der Ringe«, und ich wollte vor allem die beiden allein lassen. Ich gab Nele ein Zeichen, signalisierte Hotte, ich würde ihn anrufen, dann machten wir uns aus dem Staub.
    Spät am Abend rief Hotte mich an und fragte, ob ich zu ihm rüberkommen könnte. Ich saß immer noch am PC und arbeitete, denn irgendwie musste ich ja trotz des ganzen Schlamassels Geld verdienen. Ich hätte gerne weitergemacht und mich dann ins Bett gelegt. Aber das war mir wohl nicht vergönnt. Wenigstens hatte ich schon in aller Ruhe meine Praxis gemacht. Die war in den letzten Tagen auch zu kurz gekommen. Ich hatte Tara, meine Meditationsgottheit, um Inspiration gebeten. Erst mal war nichts gekommen, aber das kannte ich. Und als ich gerade rohe Leber für Rosa aufschnitt, stiegen zwei Gedanken in mir auf: »Ehrlich bleiben!« und »Achtsam sein!«. Ich muss gestehen, dass mir das gerade nicht wirklich in den Kram passte. Achtsam sein, okay, das ist immer gut und hilfreich. So viel habe ich in all den Jahren meiner Praxis nicht nur

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