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Endstation Nippes

Titel: Endstation Nippes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Strobl
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verschüchtert, er sagte:›Danke, mir geht es hier gut‹, und zwar auf eine Art, die bei mir alle Alarmglocken hätte schrillen lassen müssen.« Sie zuckte müde die Achseln. »Aber ich habe alles seiner Traumatisierung zugeschrieben. Und war froh, dass er es jetzt endlich gut hat.« Sie lachte wieder auf, kurz und bitter. »Und mit Tamara war es vermutlich genau das Gleiche.« Sie zerknüllte wieder das Taschentuch und versuchte durchzuatmen. »Das Mädchen war hochgradig aggressiv, ich nehme an, sie hatte auch ADHS , ich war – soll ich ganz ehrlich sein?«
    Ich erwiderte ihren Blick so ruhig ich konnte.
    »Ich war froh, dass ich sie los war. Dass ich eine Familie für sie gefunden hatte. Dass ich mich nicht mehr um sie kümmern musste. Und dann fragt man sich auch nicht, warum so ein Mädchen immer noch aggressiver wird. Nicht wahr?« Sie holte kurz Luft. »Rauchen Sie?«
    »Äh, ja, warum?«
    »Können wir rausgehen, eine rauchen?«
    Ich klemmte mir den Rekorder unter den Arm und ging mit dem Mikro in der Hand neben ihr her. Betete, dass die Aufnahme brauchbar wäre. Wir liefen ein Stück über das Gelände, bis wir eine Bank fanden, neben der ein Aschenbecher stand.
    »Tamara ist weggelaufen«, sagte Frau Lanzing, nachdem sie gierig inhaliert hatte. »Ich muss Ihnen ja nicht sagen, wie tief betroffen und verzweifelt die liebe Frau Grimme war. ›Ich habe versagt‹, hat sie mir vorgeheult. ›Ich habe dem Mädchen all meine Liebe gegeben, aber es hat nicht gereicht.‹ Und ich verblendete Idiotin habe sie noch getröstet!«
    »Sie hat nach dem Mädchen gesucht. Mir hat sie im Interview gesagt, Tamara sei an ihre Mutter zurückgegeben worden.«
    »Tamaras Mutter liegt auf dem Friedhof.«
    »Diese Kinderleiche, die sie aus dem Rhein gefischt haben, könnte es sein, dass das Tamara ist?«
    »Woher soll ich das wissen?« Jetzt richtete sich ihre Aggression plötzlich gegen mich. Sie trat ihre Kippe aus und wandte sich zum Gehen. Ich blieb stehen. Überlegte, wie ich sie mir wieder gewogen machen könnte. Schließlich lief ich ihr hinterher.
    »Frau Lanzing?«
    Sie wandte sich um. Ihre Wut war verflogen. Sie wirkte nur noch todmüde. Ließ sich auf die Parkbank vor dem Eingang fallen und kramte nach einer neuen Zigarette. Ich bot ihr eine von meinen an und gab ihr Feuer.
    »Diese Grimme«, sagte sie nachdenklich, »hat sich gezielt Kinder ausgesucht, die keine Angehörigen haben.«
    »Und von Hotte hat sie nichts gewusst«, murmelte ich vor mich hin. Dann gab ich mir einen Ruck. »Frau Lanzing, eins noch. Sie können das, was mit Marco geschehen ist, nicht wiedergutmachen. Das ist klar. Aber sie können wenigstens Chantal helfen.«
    Jetzt war sie auf der Hut.
    Sie müsse, erklärte ich ihr, dafür sorgen, dass Chantal bei ihrem Großvater bleiben könne, ganz offiziell, mit Anmeldung, Unterhaltsgeld und allem Drum und Dran. »Und wenn das ein, zwei Monate gut geht, dann soll er das Sorgerecht bekommen.«
    »Es tut mir leid, Frau Leichter, aber solche Entscheidungen müssen Sie schon den zuständigen Stellen überlassen.« Sie klang beleidigt und alarmiert.
    »Die für Marco die ultimativ beste Entscheidung getroffen haben?«
    Sie zuckte zusammen. Ich konnte dabei zusehen, wie sie sich verschloss.
    »Frau Lanzing, es geht hier um ein Mädchen, dessen Bruder, wie Sie wissen, vergewaltigt, gefoltert und ermordet wurde. Chantal hat schon für Marco gesorgt, als die beiden noch bei ihrer Mutter lebten. Sie hat Marco vor Grimme und Co gerettet. Und dann war alles umsonst. Wissen Sie, wie es diesem Mädchen jetzt geht? Sie ist zwölf. Zwölf . Wollen Sie ernsthaft, dass man dieses Mädchen jetzt ins Heim zurückbringt? Um es vielleicht in eine Pflegefamilie zu geben?«
    Sie schnappte nach Luft und verschränkte die Arme vor der Brust.
    »Chantal würde das auch gar nicht mitmachen. Sie würde abhauen. Herr Schulz ist ihr Großvater. Er liebt sie. Und sie liebt ihn. Er ist der einzige Mensch, dem sie vertraut. Muss ich Ihnen sagen, was alles mit ihr passieren kann, wenn sie nicht bei ihm bleiben darf?«
    »Das müssen Sie mit dem Kollegen besprechen, der dafür jetzt zuständig ist, Frau Leichter.« Sie stand auf und setzte sich in Bewegung. »Ich bin jetzt im Krankenstand, danach nehme ich meinen Urlaub, und das war es dann. Ich kündige, das habe ich Ihnen bereits gesagt.«
    Meine Erwiderung fiel mir nicht gerade leicht. Schließlich war die Frau in der Psychiatrie, die Fehler, die sie begangen hatte, hatten ihr ganz

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