Endstation Nippes
Wohnung. Gut ausgestattetes Kinderzimmer, gepflegte Verhältnisse. Der Mann Akademiker. Was will man mehr?«
Ich hielt ihrem Blick stand.
»Endlich mal Leute«, habe ich gedacht, »die sich kein Pflegekind nehmen, weil sie das Geld brauchen. Die Grimmes, habe ich gedacht, haben das nicht nötig. Die stehen finanziell gut da. Denen geht es wirklich darum, den Kindern zu helfen.« Sie stieß ein bitteres Lachen aus. »Ich betreue zweiundfünfzig Pflegefamilien. Zweiundfünfzig. Und jede davon soll ich mindestens zweimal pro Jahr kontrollieren. Und das habe ich auch gemacht. Das habe ich treu und redlich gemacht. Ich habe die Leute auch immer schön überprüft, bevor ich ihnen Kinder zugewiesen habe. Und Sie müssen nicht meinen, ich wäre von dem, was ich da gesehen habe, immer begeistert gewesen. Ich habe auch schon mal Bewerbungen abgelehnt.« Sie hob die Stimme, die vor Hohn schrill wurde. »Damit stößt man bloß im System auf keine Gegenliebe. Da geht es nämlich nicht um die Kinder. Da geht es um Finanzen. Eine Pflegefamilie bekommt pro Kind eintausendfünfzig Euro im Monat. Ein Heimplatz kostet an die fünftausend Euro im Monat. Noch Fragen?«
Sie schob ihre Kaffeetasse über den Tisch und wieder zurück. »Und das kommt alles im Radio, was ich Ihnen jetzt sage?«
Ich nickte stumm.
»Ich werde kündigen«, fuhr sie fort. »Ich habe also nichts mehr zu verlieren. Ich kann nicht nächste Woche oder auch in zwei oder drei Wochen wieder an meinem Schreibtisch sitzen und Kinder an Pflegeeltern vermitteln.« Sie kramte umständlich nach einem Taschentuch und knüllte es zusammen. »Könnten Sie das?«
»Vermutlich nicht.«
»Es kommt vor, dass Pflegekinder sexuell missbraucht werden. Wer sagt, das stimmt nicht, der hat keine Ahnung oder er lügt. Und es kommt vor, und zwar gar nicht selten, dass Pflegekinder weglaufen. Die finden wir dann auf der Domplatte wieder oder gar nicht mehr. Aber über all das darf man nicht reden. Pflegeeltern sind heilige Kühe. Die sind ja sooo großartig, die retten diese armen, armen Kinder! Aber fragen Sie lieber nicht nach den Motiven. Bei den einen ist es das Geld, bei den anderen die Sehnsucht nach Beziehung. Um das Kind selbst geht es längst nicht so oft, wie behauptet wird. Natürlich, es gibt auch gute Pflegeeltern, für die die Bedürfnisse des Kindes Priorität haben und nicht die eigenen. Aber es gibt eben auch all die anderen. Und gar nicht so wenige. Oft …«, sie sah mich herausfordernd an, »oft wären die Kinder im Heim besser untergebracht. Das will bloß keiner hören.«
Sie sah mich wieder herausfordernd an. Dann griff sie nach dem Mikro, hielt es sich direkt vor die Lippen und sagte: »Aber jetzt hören Sie es, werte Hörerinnen und Hörer! Schalten Sie das Radio nicht aus. Hören Sie einer zu, die weiß, wovon sie spricht.«
Der Pegel spielte verrückt. Ich sah nur noch rot. Nahm ihr sachte das Mikro aus der Hand und stellte es wieder auf den Tisch.
»Entschuldigung«, murmelte sie, »das war wohl zu laut. Entschuldigung.«
Ich nutzte die Unterbrechung. »Frau Lanzing, haben Sie je Herrn Grimme gesehen?«
»Nein. Als wir den Hilfeplan gemacht haben, war er in Asien, er macht da irgendwelche Ausgrabungen. Und als ich zum Kontrollbesuch gekommen bin, war er in den Staaten. An einer Uni, wenn ich mich recht erinnere.«
»Apropos: Wenn Sie Ihre Kontrollbesuche gemacht haben, ist Ihnen da an den Kindern nichts aufgefallen?«
»Nein. Sonst wäre ich jetzt nicht hier.« Sie legte die Handflächen flach auf den Tisch, als würde sie endgültig kapitulieren. »Als ich ihr Tamara übergeben habe, hatte ich, wie schon gesagt« – höhnisches Auflachen – »einen so unglaublich guten Eindruck.«
Sie hatte also auch Tamara an Grimmes vermittelt. Endlich hatte ich die Bestätigung für meine Vermutung.
»Ich bin zweimal zur Kontrolle gekommen, denn Tamara war ihr erstes Pflegekind. Wegen Marco war ich nur einmal da.«
Hätte sie sich selbst anspucken können, sie hätte es getan.
»Sie haben Frau Grimme ja kennengelernt. Sie sprach so liebevoll über die Kinder. Sie hat mir einen vorgesäuselt, wie schlecht es Marco noch immer geht, wie schwer er traumatisiert sein muss und dass sie schon mit dem Kinderschutzbund in Verbindung steht, wegen eines wirklich guten Therapeuten.« Sie hob kurz den Blick und starrte dann wieder auf die Tischplatte. »Der Junge stand vor mir, klein, zu klein für sein Alter, dünn, Ringe unter den Augen … Er wirkte verstört,
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