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Endstation Nippes

Titel: Endstation Nippes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Strobl
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offensichtlich zugesetzt. Aber ich musste mir nur kurz Chantal vor Augen holen, und es ging.
    »Mein Vorschlag wäre«, sagte ich sanft und bestimmt, »dass Sie entweder mit diesem Kollegen verbindlich klarmachen, dass Chantal bei Herrn Schulz bleibt und er das Sorgerecht bekommt. Oder dass Sie selbst dafür ins Amt zurückkehren.« Ich gab mir einen Ruck, jetzt kam das Schwerste: »Ich kann auch mit Ihrem Vorgesetzten sprechen beziehungsweise mit dem Leiter des Jugendamtes. Ich könnte mir vorstellen, dass niemand sonderlich daran interessiert ist, dass diese Geschichte allzu breit an die Öffentlichkeit kommt.«
    »Das ist Erpressung.«
    »Ja.«
    Plötzlich blieb sie stehen und fing an zu lachen. »Sie haben wirklich keine Ahnung«, sagte sie, immer noch lachend. »Sie haben nicht den Schimmer einer Ahnung.« Sie musterte mich von oben bis unten und wieder zurück. Ich schwieg vorsichtshalber.
    »Sie müssen mich nicht erpressen«, sagte sie schließlich. »Das ist überhaupt nicht nötig. Das Mädchen kann bei ihrem Großvater bleiben, er wird das Sorgerecht bekommen, man wird ihm drei oder vier Stunden Familienhilfe gewähren.«
    Sie sah mich herausfordernd an, als warte sie auf eine Entgegnung. Ich schwieg weiter.
    »Und wissen Sie, warum?«, fuhr sie endlich fort. »Weil alle froh sein werden, dass das Mädchen untergebracht ist. Dass es nicht ins Heim muss. Sprich dass es keine größeren Kosten verursacht. Dass man keine Arbeit mehr mit ihm hat. So ist das.«
    »Okay«, sagte ich. »Dann rufen Sie Ihren Kollegen jetzt bitte an und avisieren Sie Herrn Horst Schulz und mich zu einem Gespräch. Und sagen Sie ihm, dass Herr Schulz für Chantal erziehungsberechtigt sein soll. Oder wie auch immer das in Ihrem Fachjargon heißt.«
    Ich reichte ihr mein Handy. Sie zögerte einen Moment. Dann kramte sie ihres aus der Jackentasche und wählte die Nummer.
    Die 1 fuhr mir vor der Nase weg, also lief ich ein paar Minuten den Bahnsteig auf und ab. Ich fühlte mich zu Tode erschöpft. In der Bahn warf ich das Handy wieder an. Ich hatte drei SMS . Die erste war von Paul: »Ruf mich an!« Die zweite von Stefan: »Wo steckst du, Liebste? Alles okay bei dir?« Die dritte kam von einem anonymen Anrufer: »8 hayal«. Ich nahm an, es war eine Nachricht von Tina Gruber und bedeutete, ich sollte um acht Uhr abends im Hayal sein. Offenbar steckte sie wirklich in Schwierigkeiten. Aber warum?
    Zuerst rief ich Stefan an, dann Paul. »Ich bin im Büro«, sagte er knapp, »kannst du gleich vorbeikommen?«
    Aysche, Pauls Sprechstundenhilfe, bot an, mir einen Kaffee zu kochen, Paul sei noch in einer Besprechung, und die könne dauern. »Ist aber echt wichtig«, fügte sie hinzu.
    Ich lehnte den Kaffee ab, nahm aber ein Glas Wasser dankend an. Trank es in einem Zug aus und ließ mir nachschenken.
    »Was ist das für eine Geschichte mit dem kleinen Jungen und dem Mann, den sie festgenommen haben?«, fragte sie vorsichtig.
    »Hast du grade jede Menge Zeit?«, fragte ich zurück.
    »Nein«, erwiderte sie lächelnd, »aber ich nehme sie mir.«
    Ich erzählte ihr die ganze Geschichte von A bis Z. Als ich damit fertig war, kam Paul die Treppe herunter, im Schlepptau einen gepflegten älteren Herrn im dreireihigen Anzug. Und das bei achtundzwanzig Grad Außentemperatur.
    »Darf ich vorstellen?«, wandte er sich an seinen Besucher. »Meine Schwester, Katja Leichter. Sie arbeitet für den WDR . Katja, das ist Oberstaatsanwalt Dr. Gorowski.«
    »Sehr erfreut«, sagte Gorowski.
    »Ebenso«, antwortete ich mit meinem charmantesten Lächeln.
    »Was war das denn?«, fragte ich Paul, nachdem er seine Bürotür hinter uns geschlossen hatte.
    »Das wird sich noch rausstellen«, erwiderte er kryptisch.
    Ich fläzte mich in seinen Besucherstuhl und fühlte mich hundemüde. Obwohl ich doch so lange geschlafen hatte. Paul setzte sich gleichfalls. Er wirkte irgendwie traurig. Und sehr nachdenklich.
    »Der Mann heißt Otto Mansfeld«, fing er an. »Er ist tatsächlich zweiundsechzig Jahre alt und bezieht ALG II .« Paul nahm einen Schluck Wasser und schob das Glas dann auf der Schreibtischplatte im Kreis umher. So hatte ich ihn noch nie erlebt.
    »Er hat kaum etwas gesagt. Ich habe ihm erklärt, warum ich ihn verteidigen möchte, dass wir davon überzeugt sind, dass er unschuldig ist, dass er mir nichts dafür bezahlen muss und was weiß ich noch alles. Ich hab mir den Mund fusslig geredet. Aber das Einzige, was dann kam, war: ›Jetzt habe ich zwei Kinder auf

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