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Endstation Nippes

Titel: Endstation Nippes
Autoren: Ingrid Strobl
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so fasziniert, dass ich vergaß, dass ich eigentlich Schiss hatte.
    Hotte griff durch das Loch und entriegelte die Tür. Wir kletterten in die Wohnung oder das Institut, wie es sich nannte. Landeten in der Küche. Dahinter lag der Flur, und von hier gingen die Zimmer zur Straße hin ab. Hotte drückte eine der beiden Türen auf. Hier war es stockdunkel. Dann tanzte ein dünner Lichtstrahl vor meinen Augen herum. Hotte, sah ich, hielt eine Taschenlampe in der Hand, die vorn bis auf Punktstrahlergröße mit Klebeband abgedichtet war. Der Raum war jetzt in Umrissen erkennbar. Die Fenster standen auf Kipp und waren mit Holzjalousien abgesichert. Wir befanden uns offenbar im Arbeitszimmer, es gab hier Bücherregale, Musikanlage, Schreibtisch. Kein Notebook, stellte ich mit Bedauern fest. Das hatte Grimme vermutlich mitgenommen. Hotte checkte den anderen Raum, kam zurück, schüttelte den Kopf und flüsterte: »Schlafzimmer.«
    Er gab mir die Lampe. Ich schaute mich um. Öffnete die Schubladen, fand den üblichen Kram darin. Tastete sie untenherum ab – es war nichts aufgeklebt. In einem der Bücherregale stapelten sich DVD s. Wenn ich die alle durchsehen würde, wären wir morgen früh noch hier. Das Gleiche in dem Regal unter der Stereoanlage – Hunderte CD s. Im CD -Fach der Anlage lag Schuberts »Winterreise«. Das Etikett sah echt aus. Ich wusste nicht weiter. Was hatte ich erwartet? Ein Manuskript oder eine DVD mit dem Titel »Mein Leben als Kinderschänder«? Ich stemmte mich aus der Hocke hoch und geriet leicht ins Schwanken. Stieß gegen einen Stapel CD s, der neben der Anlage auf dem Boden lag. Lauter Klassik. Ich legte sie wieder aufeinander und hielt plötzlich eine mit dem Titel »Antonio Salieri: Kinderlieder« in der Hand.
    Hotte packte mich an Schulter, ich schrie vor Schreck auf. Er hielt mir den Mund zu. Auf der Straße, direkt vor dem Haus hielt ein Wagen. Der Motor wurde abgestellt, die Autotür geöffnet, zugeworfen. Ich erstarrte. Zürich war eine Lüge gewesen. Grimme war gar nicht verreist. Und jetzt kam er nach Hause. Hotte zog mich hoch und schob mich Richtung Flur. Wir hörten ein Klatschen, Schritte, noch ein Klatschen, die Geräusche entfernten sich. Dann kamen die Schritte zurück, der Motor wurde angelassen, das Auto fuhr ab.
    Ich war mit den Nerven am Ende. Griff mir die Salieri- CD , packte sie in Hottes Rucksack und flüsterte: »Nichts wie weg hier!« Ich stieg über das Seil ab, dann löste Hotte den Drillingsanker vom Geländer und rutschte über die Regenrinne nach unten. Wickelte sich sorgfältig das Seil um den Bauch, als hätten wir keine Eile. Mach voran, betete ich, ich war schweißgebadet und musste dringend aufs Klo. Vor dem Haus und vor allen anderen Häusern lagen nun kleine Packen in Plastik verschweißter Reklamebroschüren. Die vorher nicht da gewesen waren. Wir sahen uns an und mussten grinsen. Gingen zurück in die Theresienstraße und schwangen uns auf die Räder. Wobei ich mich weniger schwang als bleisackartig auf den Sattel hievte.
    In der Sechzigstraße trennten wir uns. Mein Adrenalinspiegel war offenbar im Absinken begriffen, denn der Kopfschmerz hatte mich wieder. Voll und ganz. Ich umarmte Hotte und dankte ihm. Er gab mir die CD und meinte, für eine Anfängerin hätte ich mich gut gehalten.
    Ich schlich die Treppe hoch, öffnete meine Wohnungstür, so leise ich konnte, ging erst mal auf die Toilette und ließ mich dann aufs Sofa fallen. Ich war fix und fertig. Mein Körper und meine Seele schrien im Duett: »Ich kann nicht mehr!« Ich musste aber trotzdem noch ein paar Sachen erledigen. Also schob ich die CD , die sich als DVD herausstellte, in den Rechner und grabbte sie. Legte sie im Ordner »Moderationstexte« unter dem Titel »Krimi-Besprechung« ab. Keine Ahnung, warum mir gerade das einfiel. Ich lief unter Autopilot. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen und klickte das File an. Sah ein leeres Zimmer mit weißen Wänden und einer Matratze. Die Kamera war irgendwo rechts oben fixiert. Marco taumelte ins Bild, er war nackt und schlang verzweifelt seine Arme um den Körper.
    Ich drückte die Stopptaste und klammerte mich an den Schreibtisch. Silberne Punkte blitzten hinter meinen geschlossenen Augenlidern. Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich. Brannte mir das File herunter. Dachte eine Weile nach. Dann hatte ich eine Idee. Ich holte die Werbebeilage aus dem Stadtanzeiger aus dem Mülleimer, legte die Original- DVD hinein, schlich die Treppe wieder
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