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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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ledernen Aktentasche Berge von Briefen und offiziellen Anfragen bei sämtlichen Behörden auf Nikitas Knie.
    Sascha kämpfte nicht nur für die Ausbesserung der Krankenhausmauer und die Beseitigung der gefährlichen Müllkippe. Er verlangte, daß Telefonanschlüsse im Ort gelegt wurden, daß Dudki einen eigenen Polizisten bekam, daß alle Einwohner geimpft wurden. Außerdem stritt er für die »Aufklärung der Bevölkerung hinsichtlich Körperhygiene und Sprachpflege«. Und für die Herausgabe einer Broschüre »Vorbeugende Maßnahmen beim Kontakt mit Tuberkulosepatienten«. Sehr viele Themen behandelte der junge Lehrer in seiner energischen, wenn auch einseitigen Korrespondenz mit dem Staat.
    Nikita entglitt der rote Faden bald. Das Klinkenputzen verschmolz zu einem endlosen Lied mit dem Refrain »aber ich wurde abgewiesen«.
    Da krachte über ihnen ein Donnerschlag.
    »Noch immer am Anschwärzen, ja?!« blaffte der Chefarzt Stepan Sawwowitsch, der Saschas verworrenem Berichtschon eine ganze Weile zugehört hatte. »Und wer ist das? Wieso sind Fremde auf dem Krankenhausgelände?«
    »Stepan Sawwowitsch, Ihre Patienten laufen im ganzen Ort herum, also können auch Fremde auf das Krankenhausgelände gelangen. Die Mauer hätte längst in Ordnung gebracht werden müssen«, parierte Agadshanow einschmeichelnd. »Außerdem ist das kein Fremder. Er ist Journalist.«
    Nikita hörte erstaunt zu.
    »Das hat uns gerade noch gefehlt! Jetzt schleppst du uns schon die Journaille an! Bist du völlig übergeschnappt! Oder willst du vielleicht gewählt werden?« donnerte Stepan Sawwowitsch. »Was für ein Journalist? Name!«
    »Aramis«, antwortete Nikita ernst und hochmütig.
    »Was?« Dem Chefarzt blieb vor Verwunderung der Zorn weg.
    »Aramis Rostislawski. Von der Zeitung ›Kurba-Kultur‹. Sonderkorrespondent.«
    Nikita schüttelte dem erstarrten Stepan Sawwowitsch die schwere Hand. Und fragte, dessen kurzzeitige Verwirrung ausnutzend, streng:
    »Wann bringen Sie die Mauer in Ordnung?«
    Agadshanow stieß einen begeisterten Pfiff aus. Der Chefarzt lächelte.
    »Die Mauer bringt gar nichts. Nur unser Agadshanow glaubt, daß die Kochschen Stäbchen an der Mauer kehrtmachen und diszipliniert den Rückzug antreten. Die Kochschen Stäbchen sehen das anders! Sie überwinden seelenruhig jede Mauer! Und wenn Agadshanow irgendwas von Medizin verstünde, würde er sich nicht so sinnlos aufblasen. Das können Sie ruhig so schreiben in Ihrem … hm … Blatt!«
    »Darum geht es doch gar nicht! Aber die Kranken könnenraus! Ungehindert! Stepan Sawwowitsch, wo wollen Sie hin!« rief Sascha vergeblich dem breiten Rücken des Chefarztes nach, der in den Tiefen des Tuberkulose-Tschernobyls verschwand.
    »Übrigens«, Stepan Sawwowitsch drehte sich unvermittelt um, »meine beiden Töchter haben sich hier mit Tuberkulose infiziert. Und ich selber auch. Seinem Schicksal entkommt man nicht. Da hilft auch keine Mauer!«
    Die schwere Tür schlug zu.
    »Sie wollen einfach nicht zuhören! Fatalisten!« Bekümmert ließ sich Sascha auf den schartigen Stufen nieder und packte die verstreuten Papiere traurig wieder in die Aktentasche. »Sie wollen nicht wie Menschen leben! Sie wollen sterben! Und das werden sie auch! Allesamt! Und auch ihre Kinder richten sie zugrunde!«
    Doch Alexander Anatoljewitsch Agadshanow aus Dudki war keiner, der sich von Mißerfolgen zu Untätigkeit verdammen ließ. Einige Monate lang rief er Nikita regelmäßig an, dankte ihm umständlich für irgend etwas und berichtete ihm flammend von seinen neuerlichen Versuchen, den Einwohnern von Dudki ein menschenwürdiges Leben zurückzubringen.
    Mit der Zeit glaubte Sascha selbst an sein Märchen vom Journalisten und wandte sich ganz im Ernst an Nikita als Vertreter der »vierten Gewalt«. Nikita versprach »Unterstützung«, und Sascha zog mit neuem Elan in den Kampf gegen die Tuberkulose-Windmühlen.
    Nach einem halben Jahr rief eine Frau bei Nikita an und teilte ihm mit emotionsloser Stimme mit, daß Sascha ermordet worden sei.
    »Wer schon. Einer von den Patienten. Das sind doch hier fast alles Kriminelle. Er hatte was mit seiner Schwester.Sascha hat ständig auf sie eingeredet, von wegen, paß auf, du wirst dich noch anstecken … Er war ein Spinner, aber das wissen Sie bestimmt selber. Na ja, und sie wurde tatsächlich krank. Sascha, der Dummkopf, ist zu ihnen ins Zimmer gerannt, als der Kerl bei ihr war, und wollte ihn rauswerfen. Der Kerl war betrunken. Hau ab, hat er gesagt,

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