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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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Mittelfinger. Jasja findet das toll. Denn mit diesen beiden Löchern sind »fuck« und »victory« sehr effektvoll. Das sind ihre Lieblingsgesten.
    Jasja singt aus vollem Hals den Alabama-Song. Sie schwänzt ein Seminar zur altrussischen Heiligen-Legende über Pjotr und Fewronja, Nikita eine Prüfung in römischerGeschichte. Gerade hat Nikita auf der Tanzfläche alle vom letzten Sommerfest übriggebliebenen Fähnchen abgerissen. Jetzt steckt er die nassen bunten Stoffetzen in quadratische Löcher des Aluminiumgitters um die Tanzfläche und bildet daraus das Wort »Jasja«.
    Jasja entreißt ihm die übrigen Fähnchen. Versucht daraus das Wort »Liebe« zu bilden. Aber es reicht nur für »Lie«. Ein verschlafener Wachmann kommt angerannt.
    »Wie seid ihr hier reingekommen, ihr Rowdys?! Ich rufe gleich die Miliz!« schreit er durch das Gitter hindurch.
    »Oh, show me the way to the next whisky bar!« schreit Jasja zurück. «We don’t understand you! We are from Chicago!«
    Dann rennen sie aus dem Park und gehen beide in Jasjas Vorlesung. Professor Jermolow, ein Postmodernist, spricht über Sascha Sokolow. Sie mögen Jermolow, seinen feinen Spott über die dummen Studenten, sie mögen Sascha Sokolow, den sie sich in den überfüllten Straßenbahnen zur Uni gegenseitig vorgelesen haben.
    »Fähnchen!« sagt Jasja spitzbübisch, legt ihren Kopf auf Nikitas Heft und hindert ihn so daran, etwas über Sascha Sokolow mitzuschreiben.
    »Fähnchen!« Von heute an bedeutet das: »Ich liebe dich.«
    Sascha Sokolow emigriert nach Kanada. Jasja will nicht emigrieren.
    Sie will heute nach den Vorlesungen in die Bibliothek gehen und in der großen staubigen Enzyklopädie »Mythen der Völker der Welt« lesen. Und sich dann lange mit Nikita in der Herrentoilette küssen, wo sie immer rauchen und sich gegenseitig die zuletzt gelesenen Bücher erzählen. Und dann in der Musik- und Notenabteilung unter mit Isolierband reparierten Kopfhörern Paganini hören und einenBrief an Nikita schreiben, der neben ihr sitzt und mit einer Hand unter ihrem Pullover nach ihrer Brust tastet und mit der anderen einen Brief an sie schreibt, eifersüchtig auf Paganini. Und dann Straßenbahn fahren. Oder sich bei irgendwem Geld borgen, billigen einheimischen Portwein kaufen und in einem fremden Hauseingang auf Amenhotep den Vierten trinken.
    »Und dann heiraten wir und emigrieren nach Mexiko! Da rauben wir Banken aus wie Bonnie und Clyde und verteilen das Geld an arme Bauern, die Bohnen anbauen und Tango tanzen«, sagt die siebzehnjährige Jasja. »Du hast einen großen Hut und einen schwarzen Schnurrbart, und ich lass’ mir die Haare lang wachsen und tanze barfuß auf der staubigen Straße, in bunten Röcken und mit Ketten behängt, und dann …«
    Und dann wurden sie erwachsen.

7
    An einer Bahnstation mit dem originellen Namen Dudki * mußte Nikita die Elektritschka verlassen, weil er keine Fahrkarte und kein Geld dabei hatte. Zusammen mit ihm warf der Kontrolleur auch eine Schar schmutziger Jungen und einen betrunkenen Widerling in Trainingshosen aus dem Zug. Die Jungen verschwanden sofort (vermutlich in den nächsten Wagen), der Sportler aber wandte sich, auf seinen einknickenden Beinen schwankend, mit einer herzerweichenden Rede an den Kontrolleur:
    »Bruder! Hör zu, Bruder! Das ist nicht brüderlich, was dumit mir machst! Aber die Erde ist rund, Bruder!« Dabei reckte er einen Finger gen Himmel und schüttelte ihn heftig in der Abendluft. »Deine bösen Taten werden zu dir zurückkehren! Und dich in den Arsch beißen, Bruder!«
    Der Kontrolleur schwieg hochmütig und spuckte Sonnenblumenschalen aus, wobei er auf die Turnschuhe des Widerlings zielte. Die brüderliche Mahnung ob der unausweichlichen Vergeltung erreichte sein versteinertes Herz nicht. Der Zug pfiff und setzte sich langsam in Bewegung. Nikita ging sich den Fahrplan ansehen. An der hölzernen Wand des Bahnhofsgebäudes hing ein einziges Wort: »Dudki«. Nikita lächelte.
    »Ja, Sie lachen! Sie haben ja keine Ahnung, wie wir unter diesem Namen zu leiden haben!« sagte ein junger Mann mit Don-Quichotte-Bärtchen, der ebenfalls aus dem Zug gestiegen war, zu Nikita.
    »Wieso?«
    »Na ja, von Beamten etwas zu wollen ist sowieso sinnlos, aber für uns ganz besonders. Egal, worum wir bitten, sie schauen auf den Antrag, lesen den Ortsnamen, grinsen und antworten: ›Dudki!‹ Ihr wollt Geld für das Ausbessern der Mauer – Dudki! Einen neuen Traktor für die Müllbeseitigung – Dudki! Ihr

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