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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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mit aufs Revier zu nehmen.
    Direkt am Metroeingang regte sich ein Penner. Niemand, Nikita eingeschlossen, hatte ihn beachtet. Indessen kramte der Mann in seinen riesigen Taschen und förderte einen zerknitterten Zehnrubelschein zutage. Majestätisch näherte ersich Nikita, reichte ihm das Geld und sah sich triumphierend um. Das Publikum tat, als wäre nichts geschehen.
    »Carthago delenda est!« sagte der Penner, während er zuschaute, wie die Menschen die Metro stürmten. Er erklärte dem verblüfften Nikita, er habe zwei Hochschulabschlüsse, sei aber von der Wissenschaft enttäuscht und zum »Wanderphilosophen« geworden.
    Sogleich folgte eine Lektion über den Sinn des Lebens.
    »Das Leben ist eine Rolltreppe, die abwärts fährt.« Der Penner holte eine Zigarettenkippe aus einem seiner weiten Hosenbeine und hockte sich hin. »Unten befindet sich selbstredend die Hölle. Oder das Nichtsein. Oder der Tod. Wie es euch gefällt. Unser Ziel ist es, hinaufzugelangen. Dorthin, wo Gott ist. Oder das Licht. Oder die Erlösung. Über die Begriffe wollen wir nicht streiten. Das spielt keine Rolle, wenn die Rolltreppe abwärts fährt.
    Nehmen wir den ganz normalen Menschen. Sein normaler Wunsch ist es, hinaufzugelangen. Aber alle seine Bemühungen werden durch die Bewegung der Rolltreppe zunichte gemacht. Letztendlich tritt der Mensch auf der Stelle. Was tun die meisten? Selbstredend das Einfachste. Sie werden müde, setzen sich mit einer Flasche Bier auf die Stufen und rollen stetig abwärts. Nur Auserwählte erreichen eine solche Geschwindigkeit, daß sie die Trägheit überwinden und hinaufgelangen!«
    »Und Sie?« fragte Nikita traurig. »Was ist mit Ihnen? Sitzen Sie auch mit einem Bier auf den Stufen?«
    Der Denker bedachte ihn mit einem tragischen Blick und antwortete:
    »Ich gehe hinauf. Und zwar tausendmal schneller als alle anderen. Nur meine Rolltreppe rast mit einem solchen Tempo abwärts, daß die meisten von euch binnen einer Sekundein der Hölle landen würden. Ich dagegen halte mich schon 53 Jahre. Auf eurer Rolltreppe wäre ich mit meinem Verstand und meinem Talent längst ganz oben angelangt!«
    »Und warum ist Ihre Rolltreppe so schnell?«
    »Warum, warum – weil jeder bekommt, was er verdient«, erwiderte der Penner, verärgert über die Fragerei. »Woher soll ich das wissen. Hat mich einer gefragt? Wir entscheiden gar nichts im Leben. Unsere einzige Freiheit ist die Freiheit, zu wählen, wie wir das uns zugedachte Schicksal nehmen wollen. Ich nehme meines philosophisch.«
    Nikita wollte sich das aufschreiben. Er kramte in seinem Rucksack. Beim Anblick des Notizbuchs schnaubte der Penner:
    »Noch so ein Carlos Castañeda! Aber schreib ruhig. Die gesamte antike Philosophie ist nur dank der unbegabten Schüler überliefert, die eine simple Wahrheit nicht begriffen haben: Wir wissen nur, was wir im Gedächtnis behalten, nicht das, was wir auf Papier festhalten.«

10
    Alja sagt: »Ich habe deine tragischen Sagas satt. Erzähl mir endlich mal wenigstens eine gute Geschichte über Rußland. Oder gibt es keine? War es hier auch irgendwann mal gut, unter irgendeinem Zaren in grauer Vorzeit?«
    Junker sagt: »Man müßte vierhundert Luftballons kaufen, sie mit Helium füllen und dann einen Abgeordneten daran festbinden und in den Himmel fliegen lassen. Daß er ein bißchen rumfliegt und nachdenkt. Über sein Verhalten. Da riskiert man nichts. Ist ja absolut ungefährlich. DieBallons werden allmählich schlaffer, und der Abgeordnete landet weich in heimatlichen Gefilden, direkt in den Armen seiner dankbaren Wähler.«
    Jasja sagt: »Ich habe in der Ausstellung ›Karobube‹ein Bild gesehen: Ein Mann in Schwarz mit einer rotweißen Armbinde und einem Strahlenkranz über dem Kopf. Sah aus wie eine Ikone. Ich dachte: Vielleicht wird man in hundert Jahren die aus politischen Gründen inhaftierten Nationalbolschewiki als Heilige betrachten?! Wie Nikolai II. – von dem hätte das zu dessen Lebzeiten auch keiner gedacht. Stell dir vor, die heiligen Märtyrer Abel und Limonow!«
    Zar Nikolai I. sagt: »Ich bekenne – das Wesen meiner Herrschaft ist Despotismus. Aber das entspricht dem nationalen Geist.«
    Verlagschef Koromyslow sagt: »Ich begreife nicht, warum die Jugend so gern redet. Weniger Worte, mehr Taten! Besorg dir eine Waffe und erledige ein paar FSB-Leute. Und dann erschieß dich selbst. Das ist Revolution, mein Sohn!«
    Ein glückseliger Hippie in der Metro sagt: »Was heißt hier Zensur? Und die Freiheit

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