Endstation Rußland
Alja war erbarmungslos und unbekümmert. Sie setzten sich auf eine Bank vor dem benachbarten Treppenaufgang und tranken Wodka.
»Ach, frischer Wind fegt übers Feld …«,hallte der Gesang eines einsamen Wanderers durch die Stille.
»Ach, frischer Wind …« Nach dem Getrampel hinter den Büschen zu urteilen, war der Sänger in Tanzschritt gefallen.
Über Alja und Nikita wurde ein Fenster aufgerissen, und eine unsichtbare Gestalt fragte einschmeichelnd in die nächtliche Welt:
»So, so, wem hat’s der frische Wind denn angetan?! Und wer hat versprochen, um zehn zu Hause zu sein, nüchtern und mit seinem Lohn in der Tasche?!«
Das Getrampel verstummte. Die Furie schnaufte angriffslustig. Hinter den Büschen ertönte erneut der »frische Wind«, in dem bereits Verzweiflung mitschwang.
In der Wohnung polterte etwas. Alja und Nikita meinten, die Furie sei umgefallen, besiegt von der selbstmörderischen Kühnheit des nächtlichen Troubadours. Doch im nächsten Augenblick kam die Furie, die aussah wie Fräulein Bock, lebendig und unversehrt, in wehender Kittelschürze, ein Nudelholz in der gewaltigen Pranke, aus dem Haus gestürmt und rannte zu dem Gebüsch, hinter dem der »frische Wind« in den letzten Zügen lag.
Das Lied brach ab. Der Hausbock schleifte ein ramponiertes Männlein an Alja und Nikita vorbei. Der Sänger des frischen Windes, den Kopf gesenkt und mit den Beinen in der Luft strampelnd, hickste und barmte. Das Pärchen verschwand im Haus, und aus der Höhle der Furie drang der Lärm eines ehelichen Unwetters.
Dann streckte der zerzauste Troubadour den schuldbeladenen Kopf aus dem Fenster, um ihn abzukühlen. Doch der frische Wind entfachte in ihm erneut die Flamme des Protests. Als er Nikita erblickte, rief er mit wiedererwachtem Enthusiasmus:
»Junge! He, Junge! Hör auf meinen Rat! HEIRATE NIEMALS!!!«
Eine mächtige Rechte packte den Aufrührer am Kragen, riß ihn vom Fenster weg und schleuderte ihn in den ehelichen Schoß zurück. Das Fenster wurde zugeschlagen. Aus der Dunkelheit tauchte Aljoscha mit dem Schlüssel auf.
»Na, hast du die Tür aufgebrochen?« fragte Alja gähnend.
»N-n-nein, ich b-b-bin am F-f-fallrohr hochgeklettert und ins F-f-Fenster gestiegen.«
»Bist du gestürzt oder was?«
»N-n-nein.«
»Wieso stotterst du dann? Ist doch keine Heldentat, in den ersten Stock hochklettern!« Alja zuckte verächtlich die Achseln und ging nach Hause, schlafen.
Nikita warf einen Blick auf das Fenster. Auf das Fallrohr. Und auf den stillen Programmierer, der in der Schule zehn Jahre lang vom Sportunterricht befreit gewesen war. Er drückte Aljoscha schweigend die Hand. Als Alja gerade nicht hinsah.
9
Aus Podolsk kehrte Nikita mit drei Rubeln in der Tasche zurück. Denn die Heilung von Rußland, das »Jubiläum« und die Preisung des Ritters Aljoscha, der am Regenrohr in den ersten Stock hochgeklettert war, hatte mehrere Tage gedauert.
Auf dem Kursker Bahnhof um fünf Uhr morgens war es sonderbar. An dem ersten Kiosk, in dem Nikita ein paarZigaretten stückweise kaufen wollte, hing anstelle des üblichen »Komme gleich wieder« ein Schild: »Mache Jagd auf bin Laden«.
Im zweiten Kiosk las eine ältere Verkäuferin staunend Naked Lunch . Vermutlich hatten der bunte Einband und der appetitanregende Titel sie angelockt. Sie hatte offenkundig nicht erwartet, in der Interzone zu landen.
Im dritten Kiosk waren zwei Kaukasier mit irgendwelchen Heimlichkeiten beschäftigt. Als Nikita ans Fensterchen klopfte, sprangen sie gleichzeitig auf, wobei sie einander unter Kartonlawinen begruben, versuchten zu fliehen, stießen mit den Köpfen zusammen, verkauften Nikita für drei Rubel eine ganze Schachtel Gauloises und schlugen das Fensterchen zu.
Vor dem noch geschlossenen Metroeingang drängte sich eine beträchtliche Menschenmenge und wartete. Nikita, nun völlig verarmt, wollte bei seinen Mitbürgern zehn Rubel für eine Fahrkarte schnorren. Durch ganz Moskau zu Fuß bis Altufjewo zu laufen wäre eine geradezu herkulische Leistung gewesen. Und wie Herkules fühlte sich Nikita nicht, schon gar nicht an diesem Morgen.
Die Leute begegneten Nikita kühl. Die einen erklärten, sie hätten kein Geld, sondern nur eine Fahrkarte. Andere hatten nur »große Scheine dabei«. Wieder andere waren zu faul, das Portemonnaie herauszuholen. Eine Frau mit großen Taschen sagte: »Wir gehen arbeiten – arbeite du gefälligst auch! Statt hier zu betteln!« Und ein schnauzbärtiger Milizionär drohte, ihn
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