Endstation Rußland
bevor ich wütend werde. Aber Sascha ging nicht. Na ja, da hat der Kerl ihn ein paarmal getreten. Zwei Tage lag er im Sterben. Er war untröstlich, daß er es nicht mehr geschafft hat, Ihnen ›eine wichtige Sache‹ zu erzählen … Woher soll ich denn wissen, was. Wer blickt da schon durch bei seinen Papieren. Angeblich hat irgendwer ihm Geld versprochen für diese verfluchte Mauer. Sag dem Journalisten, er soll schreiben, daß wir gesiegt haben, hat er gesagt … Ich? Wer schon … Seine Mutter.«
Nachdem Sascha Agadshanow begraben war, ergab sich Dudki nun hemmungslos dem Untergang. Mit ungebrochener Weltentrücktheit.
* Russ. etwa: denkste! Pustekuchen! (Anm. d. Ü.)
* Abgeleitet vom russ. Verb jebatj ; derb: ficken (Anm. d. Ü.)
8
»In deinem Leben gibt es zu viele Menschen!« Alja verbrannte Lavendelöl, das gut war gegen Streß. »Du bist überbevölkert wie China! Alle kannst du nicht durchfüttern. Das verkraftet deine Seele nicht. Du solltest Schluß machen. Hör auf mit deinen Expeditionen! Die machen dich kaputt. Aber nein, du kannst ja nicht in Frieden leben, du mußtest unbedingt in dieses Dudki! Und nun sitzt du da und heulst um einen unschuldig getöteten Geographielehrer, den du nur ein einziges Mal getroffen hast!«
»Du verstehst das nicht …«
»O doch, ich verstehe! Ich verstehe sehr gut, daß du ein Idiot bist! Nach Rußland sucht er! Dein Rußland, das ist in dir!«
»Nein. Es ist in den anderen. In ihren Geschichten. In deiner Geschichte mit deinem verschwundenen Mann und mit Division bell . In der Frau, die in einem amerikanischen Buch gelesen hat, daß man immer lächeln muß. In der tauben Baba Njura, die noch immer in der Gorbatschow-Zeit lebt, weil ihr Fernseher 1986 kaputt gegangen ist …«
»Und warum kann Rußland nicht auch in dir sein? Wenn es in uns ist? Warum suchst du nach fremden Rußländern? Reicht dir dein eigenes nicht? Oder meinst du, daß du das schon in- und auswendig kennst?«
»Ich weiß nicht. Über mein eigenes hab ich irgendwie nicht nachgedacht.«
»Weil du ein Blödmann bist! Kennt sich selber nicht, aber schmeißt sich an andere ran, um dauernd neue Leute kennenzulernen. Rußland ist in dir. Und die ganze Welt auch. Wenn du das kapiert hast, dann wirst du nicht mehr herumziehen wie ein Zigeunerlager, sondern dich endlich um das Wichtigste kümmern!«
»Worum denn?«
»Um dich selber natürlich!«
Doch Aromatherapie und erzieherische Gespräche halfen Nikita mitnichten, wieder zu sich selbst zu kommen. Da fiel Alja ein, daß sie und Aljoscha heute ihr dreijähriges »Jubiläum« hatten. Aus diesem Anlaß wurde der stille Programmierer losgeschickt, eine Flasche Wodka zu kaufen.
»Alles deinetwegen«, sagte Alja zufrieden, »wegen deiner Suche nach Rußland. Da muß ich mich wieder in den Strudel der Sünde stürzen. Ich werde mich betrinken unddich dann verprügeln. Das wird dir den Kopf geraderücken!«
Gut eine Stunde später sagte die nun rundum zufriedene Alja: »Weißt du, wofür ich dich mag? Na ja, ich mag dich natürlich nicht, ich hasse dich, aber ich akzeptiere deine Existenz, manchmal sogar in meiner Nähe. Dein größter Vorzug ist, daß du nie gefragt hast: Wie kannst du, so schön, so strahlend und so begabt, wie du bist, mit einem so unscheinbaren und uninteressanten Typen wie Aljoscha zusammenleben. Wenn ihr wüßtet! Neben ihm seid ihr alle kleine Kinder! Stimmt’s, Aljoscha? Na los, erzähl ihm, wie toll du bist!«
Aljoscha in seiner Ecke errötete still und schwieg angespannt. Alja zog es nach draußen – »unter Sternen zu wandeln«. Als die Tür hinter ihnen zuschlug, fiel Aljoscha, den Aljas Lob ganz weich gemacht hatte, etwas Schreckliches ein: Er hatte den Schlüssel drinnen vergessen.
»Was willst du damit sagen? Daß ich auf der Straße übernachten soll? Kein Problem, bin ich gewöhnt. Aber nur daß du’s weißt: Das ist dann unsere letzte Nacht!« Die Gebieterin ließ ihren armen Ritter mit der verschlossenen Tür allein und ging die Treppe hinunter. »Und du, was stehst du da noch rum? Mein Mann braucht keine Hilfe! Sonst ist es nicht mein Mann. Komm, wir gehen, soll er machen, was er will. Ich hab keine Lust, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, und du tust das gefälligst auch nicht!«
Alja packte Nikita am Arm und zog ihn die Treppe hinab. Es war ein Uhr nachts. Alle Nachbarn waren auf der Datscha. Man konnte nicht mal jemanden um ein Brecheisen bitten. Nikita machte sich ernsthaft Sorgen um Aljoscha. Aber
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