Endstation Wirklichkeit
befreien. Eigentlich tat es ihm gar nicht leid, dieses Haus, das ihn in der letzten Zeit immer stärker emotional gefangen gehalten und in Ketten gelegt hatte, zu verlassen. Seine Gedanken kreisten vielmehr um das, was vor ihm lag. Ob er jemals zurückkommen würde?
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er gehen musste. Er durfte den Bus um nichts in der Welt versäumen. Eilig verließ er das Haus und ging mit raschen Schritten die Straße entlang zur Haltestelle, die nur zwei Minuten entfernt lag. Kurz bevor er sie erreichte, sah er sein Ticket in die Freiheit auch schon um die Ecke biegen, in dessen silberfarbener Dachwölbung sich die Sonne spiegelte.
David war froh, an diesem Nachmittag der einzige Fahrgast zu sein, der in Glennville zustieg. Er hielt das abgezählte Geld für die Fahrkarte in der Hand, und als der Bus stoppte und der Fahrer die Tür öffnete, stieg er hastig ein. Er gab dem Lenker die Münzen, erhielt im Gegenzug die Fahrkarte und setzte sich weit hinten an ein Fenster. Die Tasche mit seinen wenigen Habseligkeiten stellte er neben sich auf den Sitz. Er machte sich so klein wie möglich, um nicht zu riskieren, von irgendjemandem auf der Straße gesehen zu werden. Jemand Bestimmtes, der ihn vielleicht in letzter Sekunde von seinem Vorhaben hätte abbringen können.
Der Fahrer schloss die Tür, legte den Gang ein und fuhr los. Immer schneller rollte der Bus über den Asphalt und näherte sich der Ortsausfahrt.
David drehte sich ein letztes Mal um und warf einen Blick auf das mittlerweile in der Ferne liegende Haus seiner Eltern. Dann bog der Bus um eine Ecke, verließ das Dorf und brachte ihn fort. Er wandte sich wieder um und sah nach vorne. Ein erleichtertes Lächeln umspielte seine Lippen. Sein bisheriges Leben blieb hinter ihm, stattdessen näherte er sich einem neuen. Mit jeder weiteren Meile kam er der Realisierung seiner Träume ein Stück näher.
5
J a, damals hatte er sein altes Leben hinter sich gelassen und die Erinnerungen tief in der Truhe des Vergessens verstaut. Er hatte sich nur noch auf das konzentriert, was vor ihm lag. Alles, was sein bisheriges Leben ausgemacht hatte, begraben, von sich abgestreift wie einen alten Mantel. Nicht nur die schmerzhaften Erlebnisse der letzten Tage, sondern auch die glückliche Zeit mit Alan.
Heute zog er Bilanz. Er warf seine Wünsche, Visionen und Sehnsüchte in die eine Waagschale des Lebens – alles, das damals Teil seines Lebens und Glücks gewesen war. In die andere legte er die Wirklichkeit des Hier und Jetzt, all das, was er aus seinen Träumen in die Realität hatte mitnehmen können und aus ihnen geworden war.
David überlegte. War es das alles wert gewesen? Hatte das Leben, das hier in der Stadt begonnen hatte, das Versprechen einlösen können? Jenes Versprechen, das er in seinen Gedanken von diesem neuen Sein zu erhalten geglaubt hatte?
Sicher, er hatte eine wundervolle Zeit erlebt, hatte nach anfänglichen Schwierigkeiten das gefunden, wonach er sich in der provinziellen Enge immer gesehnt hatte. Aber die Frucht war im Laufe der Zeit zu schwer geworden. Der junge, zarte Ast, zu dem sich sein Leben entwickelt hatte, war unter der Last zerbrochen. Er hatte das Gewicht der Ereignisse nicht tragen können.
Und jetzt stand er hier. Vor sich die Trümmer seiner Träume, hinter sich eine Vergangenheit, die fortzuführen ihm damals wie heute unmöglich erschien.
Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen.
Als er die zu erwartenden anfänglichen Rückschläge überstanden hatte, hatte sich das Tor geöffnet. Er hatte viel und hart dafür gearbeitet, auf vieles verzichten müssen, aber schließlich hatte er eine Welt betreten, die bereit gewesen war, ihm seine Träume zu erfüllen.
Davids Gedanken wanderten zurück an jenen Abend, als er nicht mehr an seine Visionen hatte glauben wollen. Als er bereit gewesen war, einzusehen, dass die Wirklichkeit weit von dem entfernt lag, was er sich immer vorgestellt hatte. An diesem Abend hatte sein neues Leben seinen Anfang genommen.
Teil 2
Bitteres Erwachen
1
M ickey’s stand in großen Leuchtbuchstaben über dem Eingang. Nach anfänglichem Zögern und ein paar neugierigen Blickversuchen durch das Fensterglas betrat David die Kneipe. Musik, ein Gewirr zahlreicher Stimmen und hier und dort Gelächter schlugen ihm entgegen.
An diesem Nachmittag hatte er das achtzehnte Bewerbungsgespräch hinter sich gebracht. Und wieder einmal hatte er die Stunden umsonst investiert. Zum
Weitere Kostenlose Bücher